Bibliographie: BERGER E.: Welchen ethischen
Grundsätzen folgt die Kinder- und Jugendpsychiatrie? In: LEHMKUHL U. (Hrsg.):
Ethische Grundlagen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie.
Vandenkoeck & Ruprecht 2003
WELCHEN ETHISCHEN GRUNDSÄTZEN FOLGT DIE KJP?
Ernst Berger, Wien
Trotz der wachsenden Häufigkeit, mit der ethische Probleme in der Medizin
zur Diskussion gestellt werden, ist die Antwort auf die Frage nach den
ethischen Grundsätzen der Kinder- und Jugendpsychiatrie nach wie vor keine
Selbstverständlichkeit. Deshalb sollen einleitend 3 Fragen gestellt und beantwortet
werden:
Meine Grundannahme lautet, dass die Kinder- und
Jugendpsychiatrie aus folgenden Gründen in höherem Maße als viele andere medizinische
Disziplinen einer Reflexion ihrer ethischen Grundlagen bedarf:
a)
Kinder- und Jugendpsychiater treffen in ihrer
Alltagsarbeit weichenstellende Entscheidungen die in unserem beruflichen Alltag
viel zu selten reflektiert werden. Die Reflexion verschwindet meist hinter der
fachlichen Rationalität und hinter einer vermeintlichen Sachlogik.
b)
Kinder- und Jugendpsychiater nehmen häufig eine sensible
gesellschaftliche Funktion wahr, wenn sie über ihren beruflichen Alltag hinaus
– z.B. in Massenmedien - Lebensformen und Verhaltensweisen junger Menschen
öffentlich legitimieren oder auch diskreditieren.
c)
Ein Rückblick in die Geschichte bestätigt diese
Sichtweise: Kinder- und Jugendpsychiater waren beteiligt an der ideologischen
und wissenschaftlichen Legitimierung
und an der Ausführung des Euthanasieprogramms des Nationalsozialismus
(DAHL 2001).
d)
Dieser Gesichtpunkt gewinnt in der Gegenwart deshalb
wieder besonderes Gewicht, weil wir in einer Übergangsphase des Wechsels
gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Paradigmen leben: Die Fortschritte
der Molekularbiologie werfen Fragen auf, die auch für die Kinder- und
Jugendpsychiatrie relevant werden können – z.B. bei der genetischen Begründung
psychischer Störungen. Auch die Diskussion über die Persönlichkeitsrechte, die
Rechte eines Individuums in und gegenüber der Gesellschaft, sind von
unmittelbarer Relevanz für unser Fach.
Ethik ist eine Theorie der Moral.
Ihr Gegenstand ist die Moral, somit die Gesamtheit der Regeln des
gesellschaftlichen Verkehrs der Menschen. Aufgaben der Ethik sind die Fragen
nach dem Inhalt und den Gründen der Moral. „Auch wenn wir schon wissen, was
moralisch ist, gehört es zur Aufgabe des Ethikers, dies Wissen auf Begriffe zu
bringen und als Prinzipien zu formulieren.“ (STEINVORTH 1990). Im Ethikdiskurs
geht es also nicht um Lösungsanleitungen für praktische Fragestellungen sondern
darum, einen Beitrag zum Verständnis zu leisten, warum wir moralisch sein
sollen und zu welchen Positionen bestimmte praktische Entscheidungen in der
Konsequenz führen können. Somit ist Ethik als ein Feld theoretischer Reflexion über
praktische Problemstellungen bestimmt. Um diesen Umstand deutlich zu machen,
soll folgende Frage beantwortet werden: was kann Ethik nicht?
Ethik kann keine allgemeinverbindlichen Regeln
aufstellen, aus denen sich Handlungsanweisungen für jede beliebige Situation
selbstverständlich ableiten lassen. Es gibt somit kein „Rezeptbuch der Ethik in
der KJP“, in dem ich nachschlagen kann, wie in einer schwierigen Situation zu
entscheiden ist. Ethik schafft vielmehr den theoretischen Rahmen, in dem
praktische Fragen der Reflexion zugeführt werden können. Ethik, Moral und
praktisches Handeln stehen zueinander in einem systematischen Verhältnis, das
in folgender Form dargestellt werden kann:
ETHISCHE
GRUNDSÄTZE à
MORALISCHE REGELN à
HANDLUNGSANLEITUNGEN
Moralische Regeln werden auf der Ebene der Ethik
reflektiert und verallgemeinert und sie liefern ihrerseits die Voraussetzung
für die Ableitung von Handlungsrichtlinien. Bei diesem letzten Schritt müssen überdies die
Konsequenzen der Handlung und die Interessenslagen der an der Handlung
Beteiligten reflektiert werden.
Ein 13-jähriger Knabe lebt aufgrund des Zerfalls
seiner Herkunftsfamilie und aufgrund der persistenten und tiefgreifenden
externalisierenden Störungen des Sozialverhaltens seit seinem 6. Lebensjahr in
verschiedenen sozialpädagogischen Einrichtungen. Aufgrund einer aktuellen
subakuten Krise mit schweren Sachbeschädigungen und Aggressionshandlungen droht
der Verlust des Wohnplatzes in einer sozialtherapeutischen Wohngemeinschaft.
Der Versuch einer konsequenten psychopharmakologischen Therapie scheitert an
seiner häufigen Weigerung der Medikamenteneinnahme. Die Frage der weiteren
Betreuungsstrategie soll – um den Hintergrund ethischer Positionen transparent
zu machen - auf drei grundsätzliche
Alternativen (die in der Realität nicht unbedingt Gegensätze darstellen müssen)
zugespitzt werden:
Im Folgenden soll der Versuch gemacht werden, ethische
Grundsätze, zu benennen, die für die Lösung des praktischen Problems relevant
sein können. Weder die Auswahl noch die Darstellung dieser ethischen Positionen
ist umfassend und repräsentativ; sie sind jedoch im aktuellen Ethikdiskurs
relevant.
4.1. DER UTILITARISMUS (Bentham, Mill etc.): Der
Zweck sittlichen Handelns besteht darin, zum Glück der Meisten beizutragen und
dadurch nützlich zu sein. STEINVORTH´s Kritik betont, dass diese Position auch
die Entwicklung einer 2/3 Gesellschaft legitimiert.
4.2. DIE KONSENSETHIK (Mead, Habermas etc.): Jede
Entscheidung ist legitim, die sich auf den aufgeklärten Konsens aller
Beteiligten stützen kann. Diese Position (so STEINVORTH) kennt keine
inhaltlichen Moralprinzipien und hat z.B. der Witwenverbrennung in Indien,
sofern sie mit Zustimmung der Opfer erfolgt, nichts entgegenzusetzen. Sie
schließt auch keine Zukunftsverantwortung ein.
4.3. DIE SEINS- und VOLKOMMENHEITSETHIK (Jonas):
Sein ist besser als Nicht-Sein und Seinsformen können auf einer Werteskala geordnet
werden – das Sein ist steigerbar. STEINVORTH´s Kritik: es handelt sich um eine
Form der Klassischen Ethik, die von a priori – Setzungen ausgeht und überdies
die Seinsformen einer Wertung unterzieht.
Macht man den Schritt auf die Ebene moralischer
Regeln, so bietet sich gerade für den Bereich der Medizin Schopenhauers
Moralformel als Bezugspunkt an: Verletze niemanden, vielmehr hilf soviel du
kannst allen. Dieser Satz umfasst ein Verletzungsverbot als unbedingte
Pflicht und ein Hilfegebot als verdienstliche – aber nicht unbedingte –
Pflicht.
Die Ausführungen von STEINVORTH (1990) zu diesem
Satz beleuchten weitere Aspekte, die für unseren Kontext relevant sind: „Unter
Verletzung ist die Behinderung des Willens eines menschlichen Individuums zu
verstehen, sofern es nicht selbst den Willen eines anderen Individuums
behindert .... Die Bedingung, dass eine Behinderung des Willens nur dann eine
Verletzung ist, wenn das im Willen eingeschränkte Individuum nicht selbst den
Willen eines anderen Individuums behindern will, impliziert, dass trotz des
Gewaltverbots Gewalt legitim und moralisch erlaubt, sogar geboten sein kann,
nämlich dann, wenn sie der Verhinderung der Behinderung eines Willens dient.
Unterscheidet man solche reaktive Gewalt als sekundäre von unprovozierter
Gewalt als primärer, so kann man das Gewaltverbot als Verbot primärer Gewalt
beschreiben.“
Die Prinzipien ärztlicher Ethik werden
seit Hippokrates bis heute in ähnlicher Weise formuliert (ROTH 1995):
Grundsätzliche Hilfsbereitschaft / Anwendung des Könnens zum Wohle der Menschen
/ Schutz des menschlichen Lebens / Achtung des Patienten aufgrund seiner menschlichen Würde (Schweigepflicht, Aufklärungspflicht,
sittliches Verhalten) / Fortbildungspflicht.
Die Psychiatrie besitzt im Rahmen der Medizin eine Sonderposition, die auch hinsichtlich der ethischen Maximen reflexionsbedürftig ist. Eine differenzierte Diskussion dieser Problematik ist im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich; ich beschränke mich daher auf einen zentralen Aspekt, den JERVIS (1978) hervorhebt: der Psychiatrie als gesellschaftlicher Institution werden 2 Aufgaben zugeordnet, die eine beträchtliche Widersprüchlichkeit besitzen: die Psychiatrie ist einerseits eine Versorgungsinstitution mit dem Auftrag der individuellen Hilfe und andererseits eine Institution der gesellschaftlichen Kontrolle, die auch individuelle Repression nicht ausschließt. Aus diesem Umstand ist eine besondere Verantwortlichkeit abzuleiten, die ethische und moralische Reflexion in besonderem Maße erfordert.
Ich versuche nun, die oben skizzierten ethischen
Grundpositionen zu psychiatrischen Problemstellungen in Beziehung zu setzen.
Wenn der Utilitarismus das Glück der
Meisten zur moralischen Maxime erhebt,
stellt das individuelle Schicksal keinen Entscheidungsparameter dar. Im
psychiatrischen Kontext können wir nicht darüber hinwegsehen, dass die
Ordnungs- und Vernichtungspsychiatrie des Nationalsozialismus stets das
„Volksganze“ über die Interessen des Individuums gestellt hat und die Tötung
behinderter und psychisch kranker Menschen aus dieser Perspektive legitimiert
hat. In unserem konkreten Beispiel wäre die Entscheidung wohl in jene Richtung
zu lenken, die die geringeren sozialen Kosten (im übertragenen und im
wörtlichen Sinne) verursacht.
Den Prinzipien der Konsensethik folgend
müsste ein Diskurs aller Beteiligten (z.B. eine Helferkonferenz) unter Teilnahme
des Betroffenen eingeleitet werden; jede Maßnahme, die auf der Zustimmung aller
beruht, wäre legitim. Dies würde natürlich neben psychiatrischen
Handlungsstrategien auch Repressionsmaßnahmen (Beschränkungen der individuellen
Freiheit) einschließen, sofern in diesem Diskurs Einsicht des Betroffenen in
derartige Maßnahmen erzielt werden kann.
Die Seins- und Vollkommenheitsethik stellt
das individuelle Sein in den Mittelpunkt und bietet die Voraussetzung für eine
individuelle Perspektive der Veränderung: Maß des Handelns ist die Verbesserung
des individuellen Seins, dessen konkreter Inhalt jeweils bestimmt werden muss.
Auf der Ebene moralischer Regeln kann die Schopenhauer´
sche Moralformel als Leitlinie dienen: den Willen eines Individuums nicht
zu verletzen sondern das Individuum so zu fördern, dass es seinen Willen
betätigen kann. Diese Perspektive stellt Zwangsmassnahmen grundsätzlich in
Frage. Gleichzeitig ist aber die Legitimität sekundärer Gewalt in Betracht zu
ziehen.
Folgende Positionen mit spezifisch psychiatrischen
Inhalten können als weitere moralische Orientierungshilfen betrachtet werden:
a)
Der italienische Sozialpsychiater Franco Basaglia
versteht das „Andersartige“ als Teil unserer Gesellschaft und sieht in dieser
Sichtweise die Grundlage psychiatrischen Handelns. „Das Problem liegt in der
Verinnerlichung des Konzepts, dass das Andersartige ausgegrenzt werden muss,
dass es nicht geduldet werden dürfe. Solange dieses Konzept in Geltung ist,
wird die Reaktion darauf immer nur repressiv, eindimensional und undialektisch
sein...“ (BASAGLIA 1980).
b)
Wolfgang Jantzen beschreibt Isolation – die
Störung der Austauschprozesse des Individuums mit seiner Umwelt – als
Kernproblem der psychopathologischen Symptombildung. Die Umkehrung dieses
Vorganges bedeutet: Überwindung von Isolation ist die Voraussetzung der
Reduktion psychopathologischer Symptome (JANTZEN 1979, 1987).
Der deutsche Sozialpsychiater Manfred Bauer konkretisiert den Gedanken Basaglias als Inhalt sozialpsychiatrischen Handelns: „Gemeindepsychiatrie ist der Versuch... schwierigen Menschen auf die Dauer eine Bleibe unter uns zu geben“ (BAUER 2000).
d)
Die Kinder- und Jugendpsychiatrie unterliegt als praktisch-medizinische
Disziplin gesellschaftlich definierten Aufträgen – meist in gesetzliche
Bestimmungen gefasst – die ebenfalls der Ebene moralischer Regeln zuzuordnen
sind:
Die ethisch und moralisch legitimierten
Handlungsrichtlinien für die Lösung des praktischen Problems sind unter
Berücksichtigung all dieser Gesichtspunkte abzuleiten. Ethik schafft kein
Rezeptbuch sondern bietet den Rahmen für Reflexion.
LITERATUR:
BASAGLIA F, BASAGLIA-ONGARO F.
Befriedungsverbrechen. Europäische Verlagsanstalt: Frankfurt / M. 1980 (Orig.
ital. 1975)
BAUER M.: Der „schwierige“ Patient in der
Gemeindepsychiatrie. Psychiatr. Praxis 27, 1-5, 2000
DAHL M.: Aussonderung und Vernichtung – Der Umgang
mit lebensunwerten Kindern und die Rolle der Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Praxis Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 50, 170 – 91, 2001
JANTZEN W.: Grundriss einer allgemeinen
Psychopathologie und Psychotherapie. Pahl-Rugenstein. Köln 1979
JANTZEN W.: Allgemeine Behindertenpädagogik, Bd.
1. Beltz. Weinheim 1987
JERVIS G.:
Kritisches Handbuch der Psychiatrie. Syndikat, Frankfurt / M. 1978
JONAS H.: Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt
/ M. 1979
ROTH G.: Juro,
Spondeo ac Polliceor. Konstanz und Wandel der ärztlichen Eide und Gelöbnisse.
Imago Hominis 1, 9-16, 1995
STEINVORTH U.: Klassische und moderne Ethik.
Rowohlt. Reinbek 1990