Bibliografie: BERGER E.: Lebenswille – Sterbewunsch. In: HUAINIGG F.-J.: Auf der Seite des Lebens (S 114-115). Ibera-Verlag, Wien 2007

 

LEBENSWILLE – STERBEWUNSCH

ERNST BERGER

 

Sechs Monate nach einem schweren Schlaganfall (Halbseitenlähmung und weitgehender Sprachverlust) äußert ein 83-jähriger Mann den Wunsch, zu sterben. Wenige Tage später  erfährt er, dass sein Enkel heiraten wird und er beschließt, an der Hochzeit teilzunehmen. Auf die Frage, wie das mit seinem Wunsch, sterben zu wollen, vereinbar sei, antwortete er „es ist nicht geglückt“. Er hat im Rollstuhl an der Hochzeit teilgenommen und hat noch weitere 2,5 Jahre gelebt. Er hat in jeder Krise, die er in diesen Jahren durchleben musste, um sein Leben gekämpft. Dieser Mann war mein Vater. Seinen Lebenswillen und seine Kraft zu kämpfen hatte er in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten erfolgreich geschult.

 

Zwei Situationen sind für mich unvorstellbar: Die erste Situation, dass andere Menschen – und seien sie noch so nahestehend oder fachlich kompetent – darüber entscheiden, ob das Leben eines Menschen „erträglich“ und „lebenswert“ ist oder nicht und ich als Arzt diese Entscheidung ausführen muss. Die zweite Situation, dass ein Mensch selbst im vorhinein „rechtsverbindlich“ entscheidet, welche Lebensform er – wohlgemerkt aus heutiger Perspektive – nicht mehr für erträglich halten wird und ich als Arzt gezwungen bin, diese früher getroffene Entscheidung umzusetzen. Beiden Situationen liegt die fiktive Annahme zugrunde, dass die Lebenssituation eines Menschen vorausschauend oder durch andere verlässlich einschätzbar ist. Dies ist nicht der Fall! Vielmehr müssen wir davon ausgehen, dass solche Entscheidungen ausschließlich in einem (oder mehreren) dialogischen Prozessen in der jeweiligen Situation getroffen werden können.

 

Aus den Erfahrungen des medizinischen Alltags und aus einschlägigen Studien ist bekannt, dass Sterbewünsche von Menschen in Grenzsituationen des Lebens relativ sind und von zahlreichen Faktoren abhängen. Eine Erhebung an einer neurochirurgischen Intensivstation hat gezeigt, dass Menschen in diesen Situationen über längere Zeit mehrfach zwischen  Lebenswunsch und Sterbewunsch hin und her pendeln. Selten sind es die körperlichen Bedingungen, die das Leben unerträglich machen. Die können durch technische Hilfsmittel beeinflusst und gestaltet werden. Meist sind es die sozialen Faktoren und zwischenmenschlichen Beziehungen, die das Leben lebenswert erscheinen lassen oder nicht.

 

In der neurologischen Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen begleiten wir unsere Patienten und ihre Familien oft lange Zeit durch schwierigste Lebensphasen. Oft ist es durch viele Monate hindurch nicht möglich, eine halbwegs verlässliche Prognose über das zu erwartende Ergebnis der Rehabilitation zu machen. Oft können sich die betroffenen Eltern monatelang nicht vorstellen, ihr schwer beeinträchtigtes Kind auf dem Weg zurück ins Leben zu begleiten und wieder in die Familie aufzunehmen. Die professionelle (psychotherapeutische und psychosoziale) Begleitung auf diesem Weg dauert lange Zeit und bringt zahlreiche Entscheidungsschwankungen mit sich. Am Ende der Rehabilitationszeit finden die meisten Familien eine gemeinsame Lebensperspektive mit ihrem Kind. Würden wir am Anfang dieses Prozesses Entscheidungen über Grenzen von Behandlungsmaßnahmen einfordern, so wäre zu erwarten, dass häufig Todeswünsche geäußert würden. Durch die Erfahrung, dass auch das schwer beeinträchtigte Kind trotz hochgradig eingeschränkter Kommunikationsmöglichkeiten an dialogischem Austausch teilnehmen kann, ändert sich die Perspektive schrittweise.

 

In einem Fachbeitrag (Mabuse Nr. 165, 2007) weist Erbguth auf die Gefahr des Mechanismus der „selffullfilling profecy“ hin und zitiert eine aktuelle englische Studie[1], in der der Hypothese nachgegangen wird, ob die Anwendung einer DNR-Order[2] den Therapieprozess bei Schlaganfallpatienten beeinflussen würde. Retrospektiv wurden zufällig ausgewählte 702 Patienten von 7 Krankenhäusern. Bei 34% war eine DNR-Order ausgesprochen worden; bei diesen Patienten lag die 30-Tage-Sterblichkeit mit 67% deutlich höher als die bei Patienten ohne DNR-Order (10%). Die detaillierte statistische Analyse zeigte, dass die Aufstellung einer DNR-Order den stärksten unabhängigen Sterblichkeitsprädiktor darstellte.

 

Es entspricht den guten Traditionen der Medizin, das Verhältnis zwischen der Selbstbestimmung des Patienten und der Verantwortung des Arztes als dynamisches Verhältnis zu verstehen, das jeweils in der aktuellen Situation neu bestimmt werden muss. Eine Verschiebung dieses Verhältnisses zugunsten eines abstrakten „Patientenwillens“, der in einer Patientenverfügung einen Sterbewunsch festschreibt, kann nur dazu führen, dass die Fremdbestimmung des Patienten durch die aktuellen Interessenslagen seines nächsten Umfeldes zunimmt. Die kontinuierliche Analyse der Euthanasiepraxis in den Niederlanden zeigt eine konstante Zahl von etwa 20% aller gemeldeten Euthanasiefälle, bei denen keine entsprechende Einwilligung vorlag

 

 

 

 

 



[1] Mohammed MA, Mant J, Bentham L, Stevens A, Hussain S. Process of care and mortality of stroke patients

with and without a do not resuscitate order in the West Midlands, UK. Int J Qual Health Care. 2006; 18:102-106

 

[2] DNR-Order: do not resucitate = Festlegung des Verzichts auf Wiederbelebungsmaßnahmen