MEDIZIN FÜR MENSCHEN MIT
GEISTIGER UND MEHRFACHER BEHINDERUNG
EDITORIAL (Ernst Berger)
Die gesellschaftliche
Situation behinderter Menschen wird – so zeigt die sozialhistorische Analyse
(z.B. JANTZEN 1982) – in erster Linie durch die sozioökonomische Entwicklung
einer Gesellschaft bestimmt. In zweiter Linie sind Meinungen und Einstellungen
(vgl. CLOERKES 1998) und in dritter Linie sind wissenschaftliche Konzepte
maßgebende Bestimmungsfaktoren. Wenn wir von der Relevanz der Medizin für
behinderte Menschen sprechen, so müssen wir berücksichtigen, dass
·
Gesellschaftliche
Situationen, die in den Wissenschaften zur einseitigen Akzentuierung der
biologischen Anteile menschlichen Lebens führen, zur biologistischen Verkürzung
der Wissenschaften vom Menschen tendieren.
·
Die gesellschaftliche
Dominanz eines biologistischen Menschenbildes die Integration behinderter
Menschen gefährdet und tendenziell zur Behindertenfeindlichkeit führt.
·
Die wachsende Bedeutung
molekularbiologischer Forschung als Wirtschaftsfaktor und als
Wissenschaftskonzept die Gefahr der biologistischen Verzerrung unseres
Menschenbildes vergrößert.
Die Kernpunkte eines Paradigmas, das für die Beziehung von Medizin und
Behinderung maßgebend sein muss, lauten: Geistige Behinderung wird verstanden
als
è
Produkt
eines Entwicklungsprozesses
è
verankert
in der biologischen Struktur
è
von
Lebensbedingungen abhängig
Der
Biologismus, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum dominierenden
Paradigma wurde, führte dazu, dass der Mensch zu einem Objekt des Messens, des
Zählens und des Vergleichens wurde. Die so geformte Rassenbiologie lieferte
wenig später die Legitimation für die systematische Menschenvernichtung. Eine zur biologistischen Pseudowissenschaft
pervertierte Medizin war Lieferant der Begründungen und Ausführungsorgan bei
der mit industrieller Perfektion organisierten Tötung behinderter Menschen! Nach
1945 fand der Vernichtungsfeldzug sein Ende. Es kam aber zu keinem Paradigmenwechsel. Der Biologismus
überlebte die Veränderung der politischen Verhältnisse; sein Kern: die Verabsolutierung biologischer Fakten
einschließlich ihrer Überdehnung und Verfälschung. Besonders häufig
trifft man auf die Erklärung psychischer und sozialer Aspekte aus biologischen.
Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn man der Annahme folgt, aus dem Faktum
einer Veränderung der Genstruktur (z.B. bei Trisomie 21) oder einer Schädigung
des Gehirns unmittelbar das Verhalten eines Menschen erklären zu können.
Ziehen wir auf diesem
Hintergrund einige Stichproben aus der Fachliteratur (wobei festzuhalten ist,
dass keiner der Wissenschafter in irgendeiner Nähe zum Nazi-Regime stand):
a) Im allgemein anerkannten
"Lehrbuch d. Kinder- u. Jugendpsychiatrie" (HARBAUER et al. 1971)
werden im Kapitel "Oligophrenie" auf 35 Seiten 85 biologisch
definierte Syndrome beschrieben; diese Beschreibung bleibt meist rein
phänomenologisch ohne therapeutische Konsequenz. Die psycho-sozialen Aspekte
werden auf 2 Seiten abgehandelt.
b) Auf
dem Deutschen Jugendpsychiatrie- Kongress wird 1977 auf dem Hintergrund einer
ähnlichen "Diagnostischen Einteilung nach Leitsymptomen" (z.B.:
"Oligophrenie + Cerebralparese" oder "Oligophrenie bei
besonderen Syndromen") die Forderung nach Sterilisation geistig
Behinderter ("Verminderung der Intelligenz unter das Niveau 80 nach
HAWIE") erhoben - gegebenenfalls
auch gegen den Willen der Eltern (RETT 1979). Mit keinem einzigen Wort werden
die 300.000 Zwangsterilisationen der Nazizeit (BERGER, MICHEL 1997) erwähnt!
c) 10 Jahre später wird unter
Betonung der Wichtigkeit der biologischen Fakten eine dringliche Warnung vor
umfassenden Integrationsbestrebungen ausgesprochen und eine Beschränkung der
schulischen Integration auf Einzelfälle gefordert. Dieser Text beginnt mit
folgender Passage: "Die Stellung des Arztes in der Behinderten-Szene
verliert immer mehr an Bedeutung und zwar in jenem Maße, in dem sich eine nicht
mehr kontrollierbare `Behinderten-Romantik`, getragen von fanatisierten
Pädagogen und Psychologen in unserem Schulsystem mit dem Schlagwort der `vollen
Integration` aller Behinderten in die Regelschule durchsetzt" (RETT 1987).
Der Paradigmenwechsel, dem wir
uns verpflichtet fühlen, muss sich auf folgende Fakten stützen:
In der Psychiatrie wurden Kenntnisse gewonnen, die biologistischen
Kausalitätsannahmen widersprechen; so stellt z.B. RESCH (1988) in einer
kenntnisreichen, kritischen Sichtung der aktuellen Literatur fest, dass es
keinerlei verlässliche Anhaltspunkte dafür gibt, dass biologische Befunde
(hormonelle, morphologische etc.) psychische Störungen ausreichend erklären
könnten.
Eine weitere wesentliche
Voraussetzung für die Überwindung des biologistischen Paradigma stammt aus dem
Bereich der Neurowissenschaften: Wir
wissen heute, dass sich biologische Systeme - insbesondere das Nervensystem -
nach dem Prinzip der Selbstorganisation in Abhängigkeit von ihrer Tätigkeit
strukturieren. Daraus resultiert ihre Veränderbarkeit.
Die Relevanz dieser Erkenntnis
für die Praxis lautet: Ein biologisches Defizit ist keine absolute Konstante,
sondern eine unter anderen Bedingungen für das Leben, die relative Plastizität
aufweisen.
Die wissenschaftliche Basis der
Beziehung zwischen Medizin und Behinderung ist im Sinne einer Rehabilitationswissenschaft zu
formulieren (BERGER 1993), die von einem bio-psycho-sozialen Menschenbild
ausgeht. Es bedarf der Kooperation
multidisziplinärer Teams in der Wissenschaft und in der Praxis der
Betreuung behinderter Menschen; der Kompetenztransfer (vgl. FEUSER, MEYER 1987)
hat hierbei einen zentralen Stellenwert. Dies erfordert eine Neudefinition der Rolle der Medizin:
·
Die
Medizin muss in Diagnostik u. Therapie ihren Gesichtskreis um die psychische
und soziale Dimension erweitern und biologische Bedingungen als veränderbar
erkennen.
·
Die
Medizin muss ihre Erkenntnisse (biologische und psychosoziale) den betroffenen
Menschen verfügbar machen anstatt sie als "Herrschaftswissen" zu
verwalten. Die Gangbarkeit dieses Weges erweist sich in der Praxis: In der
Begegnung mit chronischen psychischen Problemen und akuten Krisen behinderter Menschen
stellen wir fest, dass ihnen und ihren Angehörigen über lange Zeit vermittelt
wurde, dass es sich hierbei um untrennbare Bestandteile des organischen Defekts
handelt. Es zeigt sich jedoch, dass eine gemeinsame Entschlüsselung der
psychosozialen Entstehungsbedingungen in der psychotherapeutischen Arbeit auch
nach vielen Jahren noch möglich und fruchtbar ist und die dabei gemeinsam
gewonnen Erkenntnisse von den Betroffenen verwertet werden können. (Dieser Weg
wurde vor mehr als 20 Jahren von Renate Schernus begonnen - DÖRNER et al.
1980).
·
Schließlich
muss sich die Medizin dem Problem stellen, eine kritische und sensible
Bestimmung der Position zwischen subjektiver Solidarität mit ihren Klienten und
objektiver Distanz tagtäglich neu vorzunehmen: Die schwierige Aufgabe des
Arztes besteht darin, zuerst die Krankheit von der Person zu trennen, sie zu
studieren, sie dann wieder mit dem Kind und seiner Familie zu einem Ganzen
zusammenzufügen und dann erst die Entscheidung über eine etwaige Therapie zu
treffen; es geht um eine "Dialektik von Krankheits- und
Gesundheitsmedizin" (vgl. MILANI-COMPARETTI 1987).
LITERATUR:
BERGER E.: Neurophysiological
and psychological aspects of rehabilitation,
Activity Theorie 13/14, 45-47, 1993
BERGER E., MICHEL Barbara:
Zwangssterilisation
bei geistiger Behinderung
Wr.
Klin. Wochenschr. 109 / 23, 925-31, 1997
CLOERKES Soziologie
der Behinderung, 1998
FEUSER, G., MEYER H.: Integrativer Unterricht in der
Grundschule; Jarick, Oberbiel 1987
DÖRNER K., HAERLIN Ch., RAU V., SCHERNUS R., SCHWENDY A. (Hrsg.):
Der
Krieg gegen die psychisch Kranken
Rehburg-Loccum
1980
HARBAUER H., LEMPP R., NISSEN G., STRUNK P,:
Lehrbuch
der speziellen Kinder- u. Jugendpsychiatrie
Springer,
Berlin 1971
JANTZEN W.: Sozialgeschichte
des Behindertenbetreuungswesens
Deutsches
Jugendinstitut; München 1982
MILANI-COMPARETTI A: Grundlagen
der Integration behinderter Kinder und Jugendlicher in Italien.
Behindertenpädagogik 26, 227-34, 1987
RESCH F.: Das
Dilemma der psychobiologischen Forschung vom Standpunkt der
Vulnerabilitätshypothese.
Acta
Paedopsychiat. 51, 51-55, 1988
RETT A.: Klinische,
genetische, soziale und juridische Aspekte bei der Sterilisation geistig
behinderter Jugendlicher. In: MÜLLER-KÜPPERS M., SPECHT F. (Hrsg.): Recht -
Behörde - Kind. Probleme und Konflikte der Kinder- u. Jugendpsychiatrie
Huber,
Bern 1979
RETT A.: Die
schulische Integration geistig behinderter Kinder; ein ärztliches -
schulärztliches Problem.
Mitt.
Österr. Sanitätsverw. 88, 177-80, 1987