Bibliografie: BERGER E.: Psychosoziale Belastungen für Kinder und Jugendliche – Konsequenzen neoliberaler Politik. In RENNER E., ANZENGRUBER G. (Hrsg.): Zwei Seiten einer Medaille – Information zu Aufrüstung und Sozialabbau. Schulheft 117 (S 46-51); Studienverlag, Wien 2005.

 

PSYCHOSOZIALE BELASTUNGEN FÜR KINDER UND JUGENDLICHE - KONSEQUENZEN NEOLIBERALER POLITIK

ERNST BERGER

 

Mehr als in früheren Jahren ist es heute ein beliebtes Thema der Medien, über Jugendprobleme zu klagen. Oft werden diese Klagen mit Erklärungen verknüpft, die scheinbar naheliegend und evident sind, aber selten auf ihre Gültigkeit hinterfragt werden. So ist es üblich, zu behaupten, dass die Häufigkeit psychischer Störungen von Kindern und Jugendlichen ständig ansteigt. Eine kürzlich publizierte Metaanalyse der einschlägigen Studien (SCHULTE-MARKWORT et al. 2004) zeigt jedoch ein gänzlich anderes Bild: alle Studien der letzten 50 Jahre im deutschen Sprachraum zeigen, dass die Häufigkeit psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen unverändert (je nach Erhebungsmethode) zwischen 10% und 30%  liegt. Hingegen zeigt die klinische Erfahrung, dass wir qualitative Veränderungen beobachten können: wir finden schwerere Störungsbilder bei jüngeren Kindern, wir finden heftigere Erscheinungsformen von Aggression etc. Die häufig angeführten Erklärungen für diese Phänomene erscheinen – oberflächlich betrachtet – naheliegend: ein Mangel an Grenzsetzungen in der Erziehung, allgemeiner Werteverlust, hohe Scheidungsraten und Verlust von Familienstrukturen werden genannt. Darüber hinaus werden immer häufiger biologische Ursachen, die angeblich durch die Erkenntnisse der Molekularbiologie in der genetischen Ausstattung gefunden werden, genannt. Die Frage nach der Gültigkeit derartiger Erklärungen muss vorerst einen Schritt weiter in die Theorie psychischer Störungen führen.

 

Das heute allgemein akzeptierte Modell zur Erklärung psychischer Störungen ist das „Vulnerabilitätskonzept“, dessen Kernaussage lautet: Die aktuelle Störung ist das Resultat der lebenslangen Wirkung von protektiven und traumatisierenden Einflüssen im biologischen, psychischen und sozialen Bereich. In der KAUAI – Studie (WERNER 1982) wurden diese Einflussfaktoren in der Langzeitbeobachtung der Entwicklung von Kindern identifiziert (s. folgende Abbildungen)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Abb. 1

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Abb. 2

 

 

 

Diese Zusammenstellung zeigt, dass sowohl biologische als auch umweltbedingte Einflüsse – meist über längere Zeit und nicht als Einzelereignis - wirksam sind.

 

Die Relevanz individueller psychosozialer Belastungen für die Entstehung psychischer Störungen ist vor allem in den sozialpsychiatrischen Studien aus den Jahren um 1970 nachgewiesen worden (STROTZKA 1969, SHEPHERD 1971, PETRI 1979). Die Differenzierung der Häufigkeit kinderpsychiatrischer Symptome nach Sozialschichten zeigt, dass Hyperaktivität (3x) und auch Angststörungen (2x) in der untersten Sozialschicht deutlich häufiger auftreten als in der höchsten (OSBORNE zit. n. WOODROOFFE et al. 1993). Diese Erkenntnisse wurden durch spätere jugendpsychiatrische Längsschnittstudien bestätigt (z.B. HERRENKOHL et al. 1998): Adoleszenzprobleme (Schulabbruch, Drogenkonsum, Gewaltverhalten, Depression) treten dann gehäuft auf, wenn in der Biografie Kindheitsbelastungen (Misshandlung, Missbrauch, gehäufter Pflegewechsel) zu finden sind.

 

Diese Ergebnisse der Sozialpsychiatrie lassen keinen Zweifel über den Zusammenhang zwischen individueller  Belastung und dem Risiko zur psychischen Erkrankung. Sie beantworten allerdings nicht die Frage nach dem Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Bedingungen und individuellem Risiko. Antworten auf diese Frage finden wir in den Ergebnissen moderner sozialmedizinischer Forschung im Konzept der „relativen Armut“: „Länder, in denen die Einkommensunterschiede zwischen Reich und Arm groß sind ... weisen tendenziell eine schlechteren Gesundheitszustand auf..... die egalitärsten Länder weisen den besten Gesundheitszustand auf und nicht die reichsten Industriestaaten.“ (Wilkinson 2001). Diese Aussage wird von Wilkinson durch – teilweise überraschende Einzelergebnisse – konkretisiert:

 

„Relative Armut“ beschreibt den Umstand der sozialen Ungleichheit – vor allem innerhalb reicher Gesellschaften. Auf diesem Hintergrund können wir die Frage stellen, ob sich derartige Auswirkungen auch relativ kurzfristig – aufgrund aktueller sozialpolitischer Veränderungen – nachweisen lassen, oder ob es hier nur um langfristige Prozesse geht.

 

Der Nachweis, dass die Auswirkungen gesellschaftlicher Veränderungen bereits nach wenigen Jahren erkennbar sind,  wurde am Beispiel Englands erbracht: Ab Mitte der 80-er Jahren kam es unter der Thatcher-Regierung zu einem sehr raschen Anstieg der Einkommensunterschiede; parallel dazu verschlechterten sich die Trends der nationalen Sterbedaten aller Altersgruppen. Diese Ergebnisse wurden durch zahlreiche Detailstudien einzelner englischer Wahlkreise bestätigt. (Wilkinson 2001). Der politisch – historische Kontext war der „Thatcherismus“, Vorreiter neoliberaler Politik in Europa: Im Mai 1979

erlangt die konservative Partei bei Neuwahlen die absolute Mehrheit und Thatcher wird erste Premierministerin Großbritanniens. Ihre Politik ist vor allem durch eine restriktive Wirtschaftspolitik gekennzeichnet. Bei den Unterhauswahlen im Jahr 1983 wird Thatcher trotz akuter Wirtschaftsprobleme im Amt bestätigt und verfolgt auch weiterhin ihre monetaristische Wirtschaftspolitik: sie reduziert die staatlichen Ausgaben, treibt die Privatisierung staatlicher Betriebe voran und schränkt die Aktionsmöglichkeiten der Gewerkschaften ein. 1985 erreicht Thatcher den ergebnislosen Abbruch des Bergarbeiterstreiks, dessen hohe Kosten die Gewerkschaftsbewegung geschwächt haben (http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/ThatcherMargaret). Dieses zuletzt genannte Jahr 1985 wird im Folgenden näher zu beachten sein: es bringt eine deutliche Zunahme der Einkommensunterschiede und eine Zunahme der Sterblichkeit in allen Altersklassen (Abb. 5.9 und 5.10. nach Wilkinson):

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

           

Betrachten wir, welche weiteren Auswirkungen diese Entwicklung auf Kinder und Jugendliche gehabt hat:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Auch wenn entsprechende sozialmedizinische Daten aus Österreich noch fehlen, können wir zusammenfassend feststellen:

 

Psychische Störungen von Kindern und Jugendlichen sind stets als Resultat zahlreicher Belastungsfaktoren zu verstehen, unter denen die psychosozialen Belastungen zu den relevantesten zählen – diese Einflüsse drohen in Vergessenheit zu geraten. Die relativ kurzfristigen Auswirkungen gesellschaftspolitischer Veränderungen für junge Menschen verdient besondere Beachtung.

 

LITERATUR:

 

BARKMANN C., SCHULTE-MARKWORT M.: Prävalenz psychischer Auffälligkeit bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland – ein systematischer Literaturüberblick. Psychiatrische Praxis 31, 278-87, 2004

 

HERRENKOHL R.C., HERRENKOHL E.C., EGOLF B.P.: The effects of early maltreatment and family life disruptions on adolescent psychosocial functioning. Oral Presentation, 14th Intern. Congress of IACAPAP, Stockholm 1998

 

JAMES O.: Juvenile violence in a winner-loser culture. Free Association Books, London 1995

 

PARKER H., BAKX K., NEWCOMBE R.: Living with heroin. Open Univ. Press, Milton Keynes 1988

 

PETRI H.: Soziale Schicht und psychische Erkrankung im Kindes- und Jugendalter. Vandenhoeck, Göttingen 1979

 

SHEPHERD M., OPPENHEIM B., MITCHELL S.: Auffälliges Verhalten bei Kindern. Vandenhoeck, Göttingen 1973 (Orig. engl. Univ. Press London 1971)

 

TAYLOR J.C., NORMAN C.L., GRIFFITHS J.M., ANDERSON H.R., RAMSEY J.D.: Trends in deaths associated with abuse of volatile substances 1971-1991. Dept. Public Health Sciences, Medical School London, 1993

 

WERNER E.E., SMITH R.S.. Vulnerable but invincible: A longitudinal study of resilient children and youth.  McGraw Hill, New York 1982

 

WERNER E.E.: Eine Längsschnittstudie von Kindern mit Hirnfunktionsstörungen und Lernproblemen. In: FLEHMIG I., STERN L. (Hrsg.): Kindesentwicklung und Lernverhalten. Gustav Fischer, Stuttgart 1986

 

WILKINSON R.G.: Kranke Gesellschaften. Springer, Wien 2001 (Orig. engl. 1996)

 

WOODROFFE C., GLICKMANN M., BARKER B., POWER C. (Eds.): Children, teenagers and health. Open Univ. Press, Milton Keynes 1993