Bibliografie: BERGER E.:
Psychotherapie für Menschen mit intellektueller Behinderung, Med. f. Mensch.
Behind. 4, 10 -16, 2007
PSYCHOTHERAPIE FÜR MENSCHEN MIT INTELLEKTUELLER BEHINDERUNG[1]
ERNST BERGER
ZUSAMMENFASSUNG
Psychische Störungen
bedürfen auch im Kontext der intellektuellen Behinderung einer besonderen
Erklärung und dürfen nicht – dem biologistischen Paradigma folgend - als
selbstverständlicher Ausdruck der Behinderung verstanden werden. Psychotherapie
ist eine der anzuwendenden Behandlungsmethoden. Neben der meist angestrebten
Symptomminimalisierung beziehen wir uns auf das Ziel der Strukturänderung der
Persönlichkeit (STROTZKA). Der Beitrag stellt Indikationsbereiche und Methodik
dar und weist auf den Ansatz der „Rehistorisierung“ hin.
ABSTRACT
Psychotherapy must be regarded as a method for treatment of psychic
disturbances also for people with intellectual handicap. The goal of
psychotherapy is not only the reduction of symptoms, but also the change of
personality. We discuss the indication and the methods for psychotherapy and we
describe the approach of „rehistorisation“.
1.
EINLEITUNG
Als Basis der Diskussion muss vorerst der
Gegenstand definiert werden: „Psychotherapie ist ein bewusster und geplanter
interaktioneller Prozess zur Beeinflussung von Verhaltensstörungen und
Leidenszuständen, die in einem Konsensus (möglichst zwischen Patient, Therapeut
und Bezugsgruppe) für behandlungsbedürftig gehalten werden, mit psychologischen
Mitteln (durch Kommunikation) meist verbal aber auch averbal, in Richtung auf
ein definiertes, nach Möglichkeit gemeinsam erarbeitetes Ziel
(Symptomminimalisierung und / oder Strukturänderung der Persönlichkeit) mittels
lehrbarer Techniken auf der Basis einer Theorie des normalen und pathologischen
Verhaltens.“ (15)
Diese Definition entspricht durchaus dem Zugang,
den wir in der Arbeit mit Menschen mit intellektueller Behinderung verfolgen
und spannt einen dafür ausreichenden Rahmen. Dennoch muss darauf hingewiesen
werden, dass in der Periode der Niederschrift dieser Definition die
psychotherapeutische Arbeit mit geistig behinderten Menschen noch mehr als
Bekenntnis verstanden wurde und von der Realität noch weit entfernt war: „Die
traditionellen Therapien und in etwas abgeschwächtem Ausmaß die Verhaltenstherapien
stellen beim Patienten Anforderungen an seine verbalen und kognitiven
Fähigkeiten in der Übersetzung der Gefühle in kommunizierbare verbale Gehalte,
im diskriminativen Lernen an verbalen Stimuli, in der Auseinandersetzung mit
alternativen Denkansätzen, in der Introspektion und Selbstexploration etc. Das
Verhältnis zwischen Intelligenz und der Anwendbarkeit verschiedener Techniken
ist deshalb in den traditionellen Therapien kaum in Frage gestellt worden (bzw.
wurde häufig genug bestätigt). Doch gibt es abgewandelte Therapieformen, die
durchaus mit Erfolg bei Schwachbegabten angewandt werden können.“ (15, S 57).
Es dauerte noch etwa 10 Jahre, bis zum Beginn einer strukturierten Arbeit in
diesem Bereich (3)(13). Dies ist deshalb nicht weiter verwunderlich, weil jene
Menschen mit intellektueller Behinderung, die auffälliges Verhalten und / oder
psychopathologische Symptome entwickelten, meist rasch zu Patienten der
Anstaltspsychiatrie wurden und oft jahrelang dort verblieben (10). Erst jener
Paradigmenwechsel, der mit der Reintegration behinderter Menschen in die
Gesellschaft (5)(2) einherging, führte dazu, dass diese Menschen in
nennenswertem Ausmaß in das Blickfeld
der Psychotherapeuten gelangten. Dennoch stehen Menschen mit intellektueller
Behinderung noch immer am Rand der psychotherapeutischen Versorgung: „Es
besteht immer noch die Tendenz, psychische Störungen bei Menschen mit geistiger
Behinderung als Ausdruck der geistigen Behinderung zu betrachten und nicht als
Phänomene, die einer besonderen Erklärung bedürfen. Die Konsequenz ist, dass
diese Störungen im Schatten der geistigen Behinderung bleiben und weder
differenzierte diagnostische Mittel noch angemessene Behandlungsstrategien
entwickelt werden.“ (4).
In der aktuellen Diskussion dominiert nach wie
vor der Aspekt der Verhaltensänderung (16). Der Aspekt der
Persönlichkeitsveränderung wird im Rahmen mancher Therapieschulen vertreten
(4,12), steht aber im allgemeinen nicht im Zentrum. Er muss aber ebenso in den
Diskurs einbezogen werden wie andere methodische Ansätze, die in der Definition
von STROTZKA inkludiert sind, ohne unter der Bezeichnung Psychotherapie im
engeren Sinne zu firmieren – z.B. der methodische Ansatz der „Rehistorisierung“
(10).
2.
DIE BEDINGUNGEN:
Für das Verständnis des Zusammenhangs
zwischen intellektueller Behinderung und psychischer Störung kann von folgenden
Prämissen ausgegangen werden:
Nach wie vor sind Menschen, die sich beruflich mit
Menschen befassen, die von einer intellektuellen Behinderung betroffen sind,
einem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Im medizinischen Bereich wird dies
gelegentlich in die Frage gekleidet, ob sich eine (finanziell) aufwendige
Intervention denn „auszahlt“. Je höhergradig der biologische Defekt ist, der
der Behinderung zugrunde liegt (17), desto größer ist die Wahrscheinlichkeit,
dass auch bei somatisch-medizinischen Maßnahmen – z.B. Implantation eines
Herzschrittmachers, Einleitung einer Dialysebehandlung – diese Frage gestellt
wird. Auch im Bereich der Psychotherapie begegnen wir solchen Fragen immer
noch. Es ist daher notwendig, zu einigen grundlegenden Voraussetzungen der
Arbeit in diesem Feld Stellung zu
beziehen:
Diese Fakten sollten vor Einstieg in die psychotherapeutische Arbeit mit
Menschen mit intellektueller Behinderung einer bewussten Reflexion unterzogen
werden.
3.
DAS KONZEPT
3.1.
ISOLATION
W. JANTZEN (6,7,9) benennt
"Isolation" als Kernproblem von Behinderung im allgemeinen; er
unterscheidet zwischen den isolierenden Bedingungen, die auf biologischer,
psychischer oder sozialer Ebene auftreten und die menschliche Entwicklung
beeinflussen können vom Prozess der Isolation, der als Summe sozial bedingter
Ausgrenzungen von umfassender Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verstanden
werden kann. Isolierende Bedingungen können - je nach der Entwicklungsperiode
in der sie wirksam sind - pathogene
und phasenspezifisch pathoplastische Wirkungen entfalten. In der Konsequenz
stellen sie jedenfalls einen beträchtlichen Risikofaktor in der Konstituierung
einer stabilen Ich - Identität dar, dessen konkrete Wirksamkeit allerdings von
der Summe der Entwicklungsbedingungen abhängig ist. Somit müssen die
pathologischen Konsequenzen (Syndrombildungen) jeweils individuell konkret
bestimmt werden.
Daraus ergeben sich die
Ansatzpunkte und die Leitlinien der psychotherapeutischen Arbeit mit Menschen
mit intellektueller Behinderung:
·
Ziel
der Psychotherapie ist ein Beitrag zur Konstituierung von Ich – Identität
·
Voraussetzung
ist die individuelle biographisch geleitete Analyse der konkreten Ausformung
von Isolation (psychopathologisches Syndrom, aktueller Stellenwert eines
biologischen Defekts, soziale Lebenssituation)
·
Der
Weg besteht in der (kollektiven) Reflexion der aktuellen Lebensrealität
und ihrer Veränderung. Hauptthema der Psychotherapie ist somit das "hier
und jetzt".
·
Der Therapeut / die
Therapeutin müssen über
·
Die Durchführung der
Therapie muss – bei Wahrung des Vertrauensverhältnisses - in das „Netz der
Helfer“ eingebettet werden.
3.2.
KLINISCHE INDIKATIONSBEREICHE
Die
hier aufgezählten Themen stellen den derzeitigen Einsatzschwerpunkt der
Psychotherapie in unserem klinischen Alltag dar; sie sind nicht als
erschöpfende Liste möglicher Einsatzbereiche zu verstehen.
Posttraumatische Belastungsstörungen (F 43.1) wie sie im klinischen
Alltag vor allem nach dem Verlust von Bezugspersonen, nach Gewalterlebnissen
(inkl. Sexueller Gewalt), nach dem Eintritt einer Gravidität etc. auftreten.
Anpassungsstörungen (F 43.2) wie zum Beispiel aufgrund fortgesetzten sexuellen
Missbrauchs oder im Zusammenleben mit psychotischen Elternteilen vorkommen.
Behinderte Jugendliche oder junge Erwachsene, die in
wachsenden Widerspruch zu ihren oft überbehütenden (familiären)
Betreuungssystemen geraten, bringen diesen Widerspruch häufig über
psychopathologische Syndrombildungen (häufig mit Symptomen der Fremd- und
Autoaggression, der Regression, der Handlungsstereotypie) oder über somatische
Symptome zum Ausdruck. Die
Entschlüsselung derartiger Konstellationen und - sofern Aussicht auf
Veränderung besteht - ihre psychotherapeutische Bearbeitung sind häufig Inhalt
einer erweiterten psychiatrischen Krisenintervention.
3.3.
METHODIK
Zentrales
Prinzip ist die schulen-übergreifende Arbeitsweise, die bewusste
Anwendung eines psychotherapeutischen Eklektizismus, wie ihn auch W.SPIEL (14) für die Kinder- u.
Jugend-Psychotherapie fordert. Aufgabe des Therapeuten ist es, den für die
aktuellen Bedürfnisse des Patienten richtigen methodischen Weg zu finden.
Ungeachtet der Tatsache, dass unser Denkhintergrund dem tiefenpsychologischen
Konzept psychischer Vorgänge und psychischer Entwicklung nahe steht, kommen
zahlreiche Elemente verschiedener Schulrichtungen zur Anwendung.
·
Der
Verzicht auf therapeutische Abstinenz ist ein wichtiges Arbeitsprinzip.
Der therapeutische Prozess - ob einzeln oder in Gruppen - wird stets dialogisch
geführt. Sofern in der Therapie Übertragungsagieren auftritt, wird es als Material
in den dialogischen Prozess eingebaut; auf offensive Deutungen bzw.
Unterbindung des Übertragungsagierens wird verzichtet.
·
Die
Mittel der Kommunikation stammen aus dem verbalen (und
mimisch-gestischen) Bereich unter intensiver zusätzlicher Nutzung diverser
Gestaltungsmaterialien (Zeichen- u. Spielmaterialien, Musik, Puppen etc.)
·
Der
Themenzugang muss meist aktiv durch den Therapeuten eröffnet werden. Auf
der Grundlage der klinischen Diagnostik und der Kenntnis der Biografie des
Klienten / der Klientin werden jene Themen ausgewählt, die den Konfliktfeldern
des aktuellen Lebens nahe stehen und die vermutlich die wesentlichsten
veränderbaren Elemente der aktuellen psychosozialen Dynamik darstellen. Diese
Themen werden vom Therapeuten als "semidirektiver Vorschlag" in den
Dialog eingebracht.
Stets ist parallel zur
eigentlichen Therapie eine begleitende Arbeit mit den unmittelbaren
Bezugspersonen (oft Elternarbeit)
erforderlich. Derzeit geschieht dies vorwiegend unter dem Gesichtspunkt einer
stützenden Beratung. Die Anwendung eines systemischen Settings wäre zu erwägen.
4.
PRAXIS
Im stationären Setting arbeiten
wir mit erwachsenen Patienten einer behindertenpsychiatrischen
Krankenhausstation. Die Indikationen zur stationären Aufnahme ergeben sich aus
der Notwendigkeit zur psychiatrischen Krisenintervention oder im Rahmen der
Planung und Anbahnung psychiatrischer Rehabilitationsmaßnahmen. Auf der
Symptomebene dominieren Fremd- und Selbstaggression, katatoniformer Rückzug,
(pseudo)psychotisch-produktive Bilder und somatische Konversion. Die
Therapiedurchführung fällt in den Aufgabenbereich der psychotherapeutisch
ausgebildeten MitarbeiterInnen verschiedener Berufsgruppen (PsychologInnen,
ÄrztInnen, PädagogInnen).
Für die ambulante
Psychotherapie gelten grundsätzlich die gleichen Prinzipien. Spezielle
Aufmerksamkeit erfordert in diesem Rahmen die Einbettung der Therapie in das
soziale Betreuungsnetz. Da Menschen mit intellektueller Behinderung in höherem
Maße als andere Menschen in (abhängige) Beziehungen eingebunden sind, müssen
diese Beziehungsstrukturen als Einflussfaktoren der Therapie berücksichtigt
werden. Die Lösung dieses Problems kann in ähnlicher Weise gestaltet werden,
wie dies in der Psychotherapie in der Adoleszenz erfolgt: Die
Betreuungspersonen sind in den therapeutischen Prozess nicht unmittelbar, aber
„mittelbar“ eingebunden. Konkret bedeutet das, dass die engsten Bezugspersonen
von der Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit der Therapie überzeugt
(„Therapiemotivation“) und über die Ziele der Therapie informiert
(„Therapieziel“) sein müssen.
4.1. EXKURS „REHISTORISIERUNG“:
Der Begriff „Rehistorisierung“ (8) beschreibt den professionell
unterstützten therapeutischen Prozess der Wiedergewinnung der eigenen
Lebensgeschichte als Weg zur Überwindung von Isolation. Die aktuelle
Lebenssituation von Menschen mit intellektueller Behinderung verschleiert meist
die (biologischen, psychischen, sozialen) Bedingungen, die zur Herausbildung
dieser Situation geführt haben, sodass aktuelle Verhaltensweisen und psychosoziale
Probleme als unmittelbarer Ausdruck des biologischen Defekts (Hirnschädigung
etc.) verstanden werden (vgl. 4). Wenn es in einem kollektiven Prozess der
Reflexion der biografischen Bedingungen gelingt, die Lebensgeschichte
nachzuzeichnen und traumatisierende Ereignisse, Ausschließungsprozesse,
Verlusterlebnisse der Erinnerung zugänglich zu machen, kann auf diese Weise ein
Beitrag zur Konstituierung von Ich – Identität geleistet werden. „ Die
Aufarbeitung der Vergangenheit in der Gegenwart richtet sich insofern in die
Zukunft, als durch das Erinnern Handlungsmöglichkeiten eröffnet werden, die die
zukünftige Lebenspraxis verändern. Dadurch werden Verhaltensweisen, Prozesse
usw. aus der Vergangenheit verständlich“ (10 ).
Ausschnitte aus einem Arbeitsbericht (10) sollen diesen Prozess
beispielhaft verdeutlichen:
LITERATUR
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2. BERGER E. HOCHGATTERER
P., LEITHNER K., MARYSCHKA CH., GRASSL R.:
Die
Reintegration behinderter Menschen durch Ausgliederung aus
psychiatrischen Einrichtungen – das Wiener Deinstitutionalisierungsprojekt.
Med. f. Mensch. Behind. 3 ..... 2006
3. GAEDT Ch.: Psychotherapie bei geistig Behinderten. Beiträge der
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4. GAEDT Ch.: Der Beitrag eines psychodynamischen Konzepts zum Verständnis und zur Therapie von psychischen Störungen bei Menschen mit geistiger Behinderung. In: HÄSSLER F., FEGERT J.M. (Hrsg.): Moderne Behandlungskonzepte für Menschen mit geistiger Behinderung. Schattauer, Stuttgart 2000
5. HOCHGATTERER P.: Zur Auflösung der Großanstalten. Facultas
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7. JANTZEN W.: Allgemeine Behindertenpädagogik; Bd. I
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9. JANTZEN, W.; LANWER-KOPPELIN, W. (Hrsg.): Diagnostik als Rehistorisierung.
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10. KREILINGER
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11. MÜLLER - HOHAGEN J.: Verleugnet, verdrängt, verschwiegen; die
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13. REISS St.: A
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14. SPIEL
W., SPIEL G.: Kompendium der Kinder- u. Jugendneuropsychiatrie. Reinhardt,
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15. STROTZKA H. (Hrsg.): Psychotherapie: Grundlagen,
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16. TAYLOR J.L.: In Support of Psychotherapy for People Who Have Mental Retardation. Mental
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17.
WHO: The International Classification of
Functions (ICF). World HealthOrganization; Geneva
2000
[1] Dieser Beitrag stützt sich auf einen Vortrag aus 1995: Ernst BERGER, Paulus HOCHGATTERER, Monika HEUMAYER „PSYCHOTHERAPIE IN DER BEHINDERTENPSYCHIATRIE“ der im Internet (http://bidok.uibk.ac.at/library/berger-psychotherapie.html) zugänglich ist.