Bibl.: BERGER, E.: Psychiatrie im Faschismus. Behin­derte in Familie, Schule u. Gesellschaft 11, 5, 59‑62, 1988

 

PSYCHIATRIE IM FASCHISMUS*)

                                                                          

Ernst Berger[1]


 

1.Geschichte und Gegenwart:

 

Wenngleich ein Rückblick in die Geschichte der Psychiatrie heute wohl keiner Rechtfertigung mehr bedarf, soll dennoch das Anliegen der vorliegenden Arbeit formuliert werden:

Es geht um die Suche nach den Mechanismen, die in der Zeit des Faschismus die Voraus­setzung dafür waren, die Psychiatrie als Mordinstrument zu verwenden. Dabei wäre folgende Hypothese zu überprüfen: Diese Mechanismen waren nicht auf die Zeit des Faschismus beschränkt, ­sondern könnten als Teil der Psychia­trie, als Teil der Gesund­heitsverwaltung, als Teil der Verwal­tung des psychosozialen Sektors auch in anderen Zeiten wirksam werden. Geschichtsforschung spricht somit ein Problem der Gegenwart an,dessen Wurzeln in der Vergangenheit liegen.

 

2. Psychiatrie im Faschismus in Wien:

 

Die Wiener Psychiatrie in der Zeit des Nationalsozialismus war Teil der allgemeinen Vernichtungsaktion, die  systematisch geplant und mit industrieller Perfektion ausgeführt wurde.  Eines der wesentlichen Ziele dieser Vernichtungsaktion war die Einsparung finanzieller Mittel. So wurde in einem Aktenschrank in Schloß Hartheim eine Rentabilitätsberechnung mit dem Titel "Was ist bisher in den Anstalten geleistet worden?" gefunden (1), in der festgestellt wird: "Bei einem durchschnittlichen Tagessatz von RM 3,50 ergibt sich eine tägliche Ersparnis von RM 245.955,50, bei einer  Lebenserwartung von 10 Jahren RM 885.439.800,00, d.h. diese Summe wird bzw. ist bis zum 1.Sep­tember 1951 aufgrund der bisher durchgeführten Desinfektion von 73.273 Personen erspart worden." (Desinfektion ist eine Deckbezeichnung für Tötung).

 

Der allgemeine Umfang dieser Aktion ist heute bekannt:

Neben etwa 300 000 Zwangssterilisationen wurden im Rahmen der "Aktion T 4" in der Zeit von Oktober 1939 bis August 1941 (1. Phase) 70 253 Menschen durch Giftgas getötet. Die 2. Phase der Tötungsaktion wurde dezentral in den Anstalten  mittels Hunger und Gift durchgeführt, sodaß keine genauen Zahlen vorliegen. Die Gesamtzahl der Opfer im Deutschen Reich beträgt etwa 250 000 Menschen; hinzu kommen weitere Tausende Opfer in den besetzten Gebieten Europas.

 

Aus dem Psychiatrischen Krankenhaus der Stadt Wien (Steinhof), der damaligen Wagner v.Jauregg-Heil-u.Pflegeanstalt, wurden in der Zeit von Juli bis November 1940 etwa 3000 Patienten (2) verlegt und anschlie­ßend im Schloß Hartheim getötet. Im zwei­ten Psychia­trischen Krankenhaus der Stadt Wien, in Ybbs, betrug diese Zahl 2282 (2).Die freigewordenen Betten wurden teilweise als Lazarett­raum genützt, teilweise in Jugend­fürsorgeanstalten für schwerer­ziehbare Kinder und Jugendliche umgewandelt.

 

Am "Steinhof" wurde im August 1940 die Jugendfürsorgeanstalt "Am Spiegelgrund" und im April 1942 die Heilpädagogische Klinik ("für die Aufnahme der Fälle des Reichsausschusses zur wissenschaftli­chen Erfassung von erb-und anlagebedingten schweren Leiden sowie von debilen, bildungsunfähigen Minder­jährigen" (3)  gleichen namens gegründet.Die Jugendfürsorge­anstalt umfaßte im Jänner 1942 nahezu die Hälfte der gesamten Anstalt (4). Für das Krankenhaus Ybbs bestanden identische Planungen (5), die jedoch aufgrund der "Ereignisse des Winters 1941 an der Ostfront" (6) nicht im geplanten Umfang realisiert werden konnten, da die Betten als Lazarett beschlagnahmt wurden. Die Zugänge in die Jugendfürsorge­anstalt kamen teil­weise aus Wiener Heimen (z.B. Liste von 253 Kindern im Juni 1941) (7) teilweise aus verschiede­nen Teilen Deutschlands (Rheinischer Raum, Bad Kreuznach, München-Gladbach), wobei die Wiener Gesundheitsverwaltung darüber Klage führte, daß ein großer Teil der Kinder jünger als 14 Jahre war und "die Dia­gnosen fast aller nach Wien übersandten Fälle tiefstehende Idiotien sind, die wir in unseren Anstalten nicht mehr haben." (8). Im März 1943 stellte der stellvertretende Gauleiter Scharizer in einem Schreiben an Stadtrat Gundel die Frage, "...ob nicht die unerhört knappe Bettenzahl in Wien die Wiederaufnahme der seinerzeit abgestoppten Räumungsaktion Steinhof usw. wünschenswert erscheinen läßt." (9)

 

Die zweite Phase der Vernichtung, die ohne zentrale Planung innerhalb der Anstalten vor sich ging, ist für den Steinhof anhand eines Transportes vom 16.August 1943 aus den Alster­dorfer Anstalten, Hamburg, dokumentiert, für den bis 1945 eine Sterbe­rate von 86% (Sterberate vergleichbarer Anstalten bis 1939 2-4%) festgestellt wurde (10).

 

Bereits im Jahre 1939 wurde im Wiener Gesundheitsamt eine Kartei aufgebaut, deren Personenkreis weit über die Gruppe der Behinder­ten hinausging. Sie umfaßte mit 320 000 Personen (Zwischenbericht vom 28.7.1939) über 15% der Bevölkerung Wiens: Geisteskranke und Psychopathen, Trinker, Prostituierte, sowie 40 000 schwer erziehbare und psychopathische Kinder aus asozialen Familien (2). Diese Kartei zur "Erfassung der nega­tiven Auslese Groß-Wiens" sollte die Grundlage weiterer Ver­nichtungsaktionen sein, die mit der bereits erwähnten Ver­legung von Kindern aus städtischen Kinderheimen (7) auch tatsächlich teilweise realisiert wurde.

 

Eine vorläufige Einschätzung dieser erst mangelhaft er­forschten historischen Zusammenhänge läßt folgende Schluß­folgerungen zu: Die Vernichtungsaktionen erfaßten vorerst die psychisch kranken und geistig behinderten Menschen, unter ihnen viele Kinder und Jugendliche. Sie wurden in der Folge systematisch auf Kinder und Jugendliche aus proletarischen Familien ausgedehnt. Neben dem Personal der Pflegeanstalten waren Gesundheits-und Sozialverwalt­ung in großem Maße be­teiligt. (Die aus den Akten ersichtlichen Begründungen für die damaligen "Fürsorgemaßnahmen" unterscheiden sich übrigens nicht grundsätzlich von den heutigen).

 

Die Überstellungsmaßnahmen (aus Anstalten und Heimen) wurden offiziell durchgeführt; die Tötungen der betroffenen Menschen erfolgten geheim. Ein bereits vorbereitetes " Euthanasie-Gesetz" wurde im August 1940 fertiggestellt, es trat jedoch nie in Kraft (2). Es handelte sich also auch nach den damalig­en Gesetzen um Mord, der als "Sterbehilfe" oder unter ver­schiedenen anderen Deckbezeichnungen, wie Desinfektion oder Verschickung, ausgeführt wurde.

 

Vermutlich trifft für einen Großteil des beteiligten Personals eine Einschätzung zu, zu der Seidel u.a. für Niedersachsen gelangten: Das Verhalten der Mehrzahl ist als "hilfreiche Anpassung - hilflose Fügung" zu bezeichnen (11).

 

3.Voraussetzungen und Folgen:

 

Die Vernichtungsaktionen waren weder ein "Betriebsunfall" der Geschichte, noch das Werk einiger "Bestien". Sie waren konse­quenter Ausdruck der ökonomischen Interessen, die die Grund­lage des deutschen Faschismus waren. Ihre unmittelbaren ideo­logischen Wurzeln lagen in der Rassenideologie (2), die als unmittelbares Produkt des europäischen Kolonialismus im 19.Jahrhundert entstanden ist. Menschen aus anderen Erdteilen wurden als Monstren zur Schau gestellt und unter Berufung auf Mißinterpreta­tionen des Darwinismus mit tierischen Ab­stammungen in Zusammen­hang gebracht (12).

 

Die theoretischen Grundlagen der Psychiatrie, die von E.Kraepelin um die Jahrhundertwende geschaffen wurden, standen damit in einem logischen inneren Zusammenhang: Alle wesent­lichen Eigenschaft der Menschen wurden als biologisch begründet erklärt und die Klassifikation psychischer Krank­heiten erfolgte anhand pseudo- natur wissenschaftlicher Kriterien. Dieses System eignete sich hervorragend zur wissen­schaftlichen Legitimation und als Selektionsinstrument zur Durchführung der Vernichtungsaktionen. Griesingers psych­iatrische Konzepte (13) und Virchows Rassengut­achten (12) zeigen, daß es auch damals wissenschaftliche Alternativen gegeben hätte.

 

Das Ende des deutschen Faschismus im Jahre 1945 war auch das Ende der Vernichtungsaktion. Keineswegs aber wurde mit diesem Datum ihren ideologischen Grundlagen oder dem Wirken ihrer Träger ein Ende bereitet.

 

Dr.Heinrich Groß, während der Nazizeit als Arzt an den Tötungs­aktionen in der Anstalt "Am Spiegelgrund" beteiligt, war bis vor kurzer Zeit Primarius im Psychiatrischen Kranken­haus (Steinhof) und ist heute noch als psychiatrischer Gerichtsgutachter tätig.

 

Auch die Lebensdaten von Dr.Hans Bertha sind ein deutliches Dokument der Kontinuität (14):

            1901 geb. in Bruck a.d. Mur

                  1933 Beitritt zur NSDAP (Nr.1521286)

                  1937 Beitritt zur SS

                  1938 Kommissarische Leitung d. Univ.-Nervenklinik Graz,            Vorlesung "Menschliche Erblehre als Grundlage der                   Rassenhygiene"

                  1941-1945 Leiter des Referats "Fürsorge für Nerven-,            Gemütskranke und Süchtige" der Stadt Wien

                  1944, 1.Jänner: Übernahme der Leitung der Wagner v.      Jauregg- Heil-u.Pflegeanstalt

                  1961 Als Ordentlicher Professor und Vorstand der Neurologisch-Psychiatrischen Universitätsklinik in Graz

       Mitbegründer der Internationalen Neuropsychia­tri­schen

       Symposien in Pula

                  1963 Dekan der Medizinischen Fakultät Graz

                  1964 Tod infolge eines Autounfalls.

 

Das Mißtrauen, das der Psychiatrie auch heute entgegengebracht wird, beruht nicht nur auf der von ihr ausgeübten gesell­schaft­lichen Ordnungsfunktion. Die dargestellte personelle Kontinuität, die Tatsache, daß eine Auseinandersetzung der Psychiatrie mit ihrer eigenen Geschichte und eine Distan­zierung von den Mord­

aktionen bis heute nicht vollzogen wurde sowie das Fort­bestehen der Konzepte Kraepelins als Grundlage der psychiatri­schen Krankheitslehre stellen berechtigte Gründe für dieses Mißtrauen dar. Sie haben auch tatsächlich ihre Wirkung bis heute nicht verloren. 

 

LITERATURVERZEICHNIS:

 

(1) Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (DÖW)

(2) NEUGEBAUER W. "Von der'Rassenhygiene` zum Massenmord"

(3) DÖW/Schreiben Dr.Öller 16.7.42. Zmt E 8/E 10-1-128/42

(4) DÖW/Schreiben StR.Gundel 2.1.42. Zl.:E-3/1942

(5) DÖW/Schreiben Dr.Parville 2.8.41. Zl. V-1597/41

(6) DÖW/Schreiben StR.Gundel 11.3.43. Zl:E-225/43

(7) DÖW/Schreiben Dr.Wolschansky 30.6.41

(8) DÖW/Schreiben StR.Gundel 25.5.43. Zl.:E-442/43

(9) DÖW/Schreiben Scharizer 6.3.43. Eingangs-Zl.E-225/43

(10) WUNDER M., GENKEL I., JENNER H. "Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr" Hamburg 1987

(11) SEIDEL  ., MEYER  ., SÜßE  . "Hilfreiche Anpassung - hilflose Fügung" Psychiat.Prax.14,1987

(12) RANKE J. "Der Mensch" Leipzig 1923

(13) GÜSE H.-G., SCHMACKE N. "Psychiatrie zwischen bürger­licher Revolution und Faschismus" Athenäum Verlag 1976

(14) DÖW/Personalakten und div. Briefe

 

*)Ich danke Wolfgang Neugebauer/DÖW für die Unterstützung bei der Benützung der Archivakten.

 

 

Anschrift des Verfassers:

Univ.-Doz.Dr.Ernst Berger, Univ.-Klinik f. Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters; Währingergürtel 18-20, 1090 Wien.



[1] Ich widme diese Arbeit meinem Vater, Ferdinand Berger, und allen anderen Österreichern, die in dieser Zeit nicht ihre "Pflicht" getan haben.