AUSGLIEDERUNG BEHINDERTER MENSCHEN AUS

PSYCHIATRISCHEN INSTITUTIONEN

DAS WIENER DEINSTITUTIONALISIERUNGSPROJEKT

 

 

 

 

EVALUATIONSSTUDIE

ENDBERICHT

Wien, im März 2003

KURZFASSUNG

ERNST BERGER

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Im Auftrag der ARGE Wohnplätze

 

 

 

PROJEKTTEAM:

Univ. Prof. Dr. Ernst Berger (Projektleiter)

Dr. Paulus Hochgatterer, wissenschaftlicher Mitarbeiter (Psychiater)

Dr. Katharina Leithner, wissenschaftliche Mitarbeiterin (Psychiaterin)

Chistian Maryschka, wissenschaftlicher Mitarbeiter (Statistiker)

Roland Grassl, wissenschaftlicher Assistent

Inge Prochaska, Sekretärin

 

 

Die Evaluationsstudie wurde im Auftrag der ARGE Wohnplätze (Koordinationsstelle für die Angebote im Wohn- und Arbeitsbereich für behinderte Menschen. Koordinator: ursprünglich DSA Wolfgang Misensky / derzeit: Mag. Doris Winkler) im Rahmen der Arbeitsgruppe Rehabilitation / Integration (Leitung: Univ. Prof. Dr. Ernst Berger) an der Universitätsklinik für Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters (Vorstand: Univ. Prof. Dr. Max Friedrich) durchgeführt und vom Verein Wiener Sozialdienste finanziert.

 

FORSCHUNGSGEGENSTAND

Der vom Auftraggeber vordefinierte Rahmen der Evaluationsstudie schloss die Variante der Prozess-Evaluation (Beschreibung von Prozessqualität bzw. Überprüfung der Betreuungsqualität), die ein wesentlich komplexeres Design (vgl. KANNONIER-FINSTERER, ZIEGLER 1998) erfordert, aus. Somit blieben zahlreiche Faktoren, die aus der Perspektive einer mehr psychotherapeutischen Akzentuierung bzw. mehr inhaltlichen Gestaltung durchaus relevant wären (Beziehungsgestaltung, pädagogische Haltungen, subjektives Erleben der KlientInnen etc.) unbeachtet. Gegenstand der Evaluation sind somit Elemente der Strukturqualität und der Ergebnisqualität.

 

 

 

1.1. FRAGESTELLUNGEN

1.1.1. KLIENTENBEZOGENE FRAGEN:

· Welche Verteilung zeigen die Klientenmerkmale (Kompetenzen, Verhaltensweisen, Defizite) in den Untersuchungsgruppen? (Charakterisierung der KlientInnen)

· Stehen die Klientenmerkmale (Kompetenzen, Verhaltensweisen, Defizite) in einem Zusammenhang mit den Lebensbedingungen?

· Gibt es bei prospektiver Längsschnittbetrachtung Veränderungen der Klientenmerkmale (Kompetenzen, Verhaltensweisen, Defizite) sowie des psychiatrischen Befundes, die mit den Veränderungen der Lebensbedingungen (Übersiedlung) in Zusammenhang gebracht werden können?

1.1.2. INSTITUTIONSBEZOGENE FRAGEN:

· Welche Lebensbedingungen weisen die Wohngemeinschaften auf?

· Werden die – durch die Übersiedlung veränderten - Lebensbedingungen (erweiterte Eigenaktivitäten, Möglichkeit von Umweltkontakten etc.) auch genützt?

 

1.2. EVALUATIONSDESIGN

Zu den vorgegebenen Elementen des Evaluationsdesigns zählten die Populationsgruppen und die Wohn- und Lebensbedingungen in den neuen Wohngemeinschaften. Hinsichtlich der Auswahl der Klientengruppen waren lediglich die Entscheidungen zur Definition der Größe der Stichproben zu treffen.

1.2.1. KLIENTENGRUPPEN: (s. Tab. 3)

· Übersiedlung 1987-96 „retrospektiv lang": Gesamt ca. 100 Personen, davon Zufallsstichprobe ca. 50%. N = 44 (+14)

· Übersiedlung 1996-97 „retrospektiv kurz": Gesamt ca. 80 Personen, Gesamterhebung. N = 75

· Übersiedlung ab 1998 „prospektiv": Gesamt ca. 50 Personen, Gesamterhebung. N = 48

1.2.2. WOHNSTRUKTUREN

Die Daten über die formalen Rahmenbedingungen der Lebenssituation in den Wohngemeinschaften wurden seitens der ARGE Wohnplätze übermittelt.

· Wohnraum

· Betreuung / Personalschlüssel

Eine Berücksichtigung der sozialen Beziehungen innerhalb des Wohnbereichs war – wie bereits erwähnt – aus Gründen des Studienumfangs nicht möglich.

1.2.3. UNTERSUCHUNGSBEREICHE

Die Definition der Untersuchungsbereiche stellt das zentrale methodische Element der Evaluation dar. In der einschlägigen Literatur finden sich verschiedene Zugänge, es gibt jedoch bisher keinen „goldenen Standard".

Im Zentrum der Beurteilung stehen einerseits Beschreibungen des Verhaltens (Abberant Behaviour Checklist, AMAN&SINGH 1986; Maladaptive Behaviour Inventory, DAGNAN, McEVOY, STURMEY 1995), andererseits Psychopathologische Befunde (Psychopathology Instrument for Mentally Retarded Adults – PIMRA - SENATORE, MATSON, KAZDIN 1985; LINAKER 1991). Wir haben beide Aspekte (Klientenmerkmale, psychiatrischer Befund) in unsere Beurteilung aufgenommen.

Das Konzept der Lebensqualität hat als Kriterium der Sozialwissenschaften (SCHUESSLER, FISHER 1985; KERN 1981), als Parameter der Effizienz sozialer Dienste und auch als Parameter der Therapieforschung und der Gesundheitsplanung (CHASSANY et al. 1999) Tradition gewonnen und auch Eingang in die Evaluation der Lebensbedingungen behinderter Menschen gefunden (THIMM 1978; CRAGG, HARRISON 1986; DAGNAN et al. 1995). Dieses Konzept stützt sich auf die Wechselwirkung objektiv beschreibbarer Lebensbedingungen und subjektiver Bedürfnislagen (BECK 2000). Trotz der unüberwindlichen methodischen Schwierigkeiten der Erhebung der subjektiven Bedürfnislagen bei den KlientInnen unserer Studie (mangelnde Sprachkompetenz und langdauernde Isolation einerseits und Undurchführbarkeit von teilnehmender Beobachtung andererseits) entschlossen wir uns, das Kriterium der Lebensqualität anzuwenden - in reduzierter und normativ akzentuierter Form (vgl. die Diskussion bei BECK 2000, S 360-70; KANNONIER-FINSTER, ZIEGLER 1998) und uns an folgenden Leitlinien orientiert:

· Umsetzung des Normalisierungsprinzips („Integration durch Normalisierung der Hilfen" vgl. BECK 2000, S 351)

· Individuelles Wohlbefinden wird als abhängig von den Möglichkeiten der Erfüllung individueller Grundbedürfnisse verstanden; als Zielbereiche der Lebensqualitätsanalyse wird folgendes Spektrum betrachtet: Gesundheit, Persönlichkeitsentwicklung, intellektuelle und kulturelle Entfaltung, Arbeit, Freizeit, Verfügung über Güter und Dienstleistungen, physische Umwelt, persönliche Freiheitsrechte, Qualität des Lebens in der Gemeinde (BÖTTNER et al. 1997, S 52)

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1.2.3.1. Klientenmerkmale

Die Grundannahme lautet, dass KlientInnen von ihren BetreuerInnen so beschrieben werden können, dass diese Information eine hinreichende Charakteristik der KlientInnen darstellt. Die Beschreibung der KlientInnen bezieht sich auf die Bereiche

· Kompetenzen

· Defizite

· Verhaltensweisen

Dieses Kriterium wurde als Element der Basisdokumentation für alle KlientInnen erhoben.

1.2.3.2. Psychiatrischer Befund

Die Erhebung des psychiatrischen Befundes erfolgt durch den Facharzt / die Fachärztin für Psychiatrie. Dementsprechend ist die Möglichkeit der Erhebung dieses Kriteriums quantitativ eingeschränkt und wird auf die „prospektive Gruppe" beschränkt.

Die Psychopharmaka-Therapie wurde zwar in die Erhebungsbogen aufgenommen, aufgrund der mangelnden Vergleichbarkeit, die mit der Vielzahl der verwendeten Präparate gegeben war, aber nicht in die Evaluation einbezogen.

1.2.3.3. Lebensqualität

Aufgrund der oben dargestellten Einschränkungen mussten wir das Konzept der Lebensqualität auf jene Items reduzieren, die von außen beobachtbar waren und mussten es auf Beobachtungen der BetreuerInnen beschränken, da etwa die Hälfte der KlientInnen aufgrund der langen Dauer der Hospitalisierung keine Angehörigenkontakte mehr hatte.

Wir orientierten uns an folgenden zentralen Kriterien (DAGNAN et al.1996): activity and competence / access to community / make choices and decisions / relationships / status and dignity. Unsere Erhebungen erfassten

· Klientenbezogene LQ-Items

· Wohngemeinschaftsbezogene LQ-Items

 

 

1.2.4. ERHEBUNGSINSTRUMENTE

1.2.4.1. Basisdatenblatt Wohneinrichtung: Wohnraumkriterien, Betreuungspersonal

1.2.4.2. Stammdatenblatt Klient: Angaben zur Identifikation der KlientInnen, psychiatrische Diagnose (ICD-9), Psychopharmaka.

1.2.4.3. Beurteilungsskala für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung (BMGMB)

Dieser Fragebogen wurde für die vorliegende Evaluationsstudie erstellt (Hauptautor P. Hochgatterer), um die Klientenmerkmale (Kompetenzen / Verhaltensweisen / Defizite) zu erfassen. Der Fragebogen richtet sich an das BetreuerInnen-Team (Bezugsbetreuer) und wird in Interviewform von einem Mitarbeiter des Projektteams ausgefüllt; er wurde bei allen KlientInnen angewandt.

Der Fragebogen (s. Anhang) enthält 30 Items, die folgende Bereiche erfassen: Allgemeine Hilfsbedürftigkeit, Orientierung, Kommunikationsmöglichkeiten, allgemeine Autonomie, Aggressivität, Depressivität, andere psychische Auffälligkeiten.

Die statistische Überprüfung (reliability coefficients) bestätigte folgende Subskalen:

· Hilfsbedürftigkeit (Alpha = 0,8706)

· Kommunikationsmöglichkeiten, Orientierung, Autonomie (Kumulation von 3 Subskalen) (Alpha = 0,9057)

· Aggressivität (Alpha = 0,7171)

· Depressivität (Alpha = 0,5617)

 

1.2.4.4. Lebensqualitätsfragebogen für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung (LQMGMB)

Dieser Fragebogen wurde für die vorliegende Evaluationsstudie erstellt (Hauptautor P. Hochgatterer), um extern beobachtbare Kriterien für Lebensqualität zu beschreiben. Der Fragebogen richtet sich an die BetreuerInnen (Bezugsbetreuer) und wird im Gespräch mit einem Mitarbeiter des Projektteams ausgefüllt; er wurde bei allen KlientInnen angewandt.

Der Fragebogen enthält 30 Items, die folgende Bereiche erfassen: Externe Bedingungen allgemein, externe Bedingungen medizinisch, Ausstattung Wohnbereich, soziale Möglichkeiten im Wohnbereich, realisierte Sozialkontakte, Möglichkeiten autonomer Einflussnahme, Beschäftigungsform, realisierte autonome Aktivitäten, Gesamteindruck, Betreuerorientierung.

Die statistische Prüfung der Reliabilität ergab für die Klientenbezogenen Lebensqualitäts-Items einen zufriedenstellenden Wert (Alpha = 0,7240).

1.2.4.5. Brief Psychiatric Rating Scale (BPRS)

Die BPRS ist eine häufig verwendete psychiatrische Beurteilungsskala (OVERALL, GORHAM 1962; MILLER, FAUSTMANN 1996) und erfasst die Bereiche Angst/ Depression, Anergie, Denkstörung, Aktivierung, Feindseligkeit/ Misstrauen. (s. Anhang); sie enthält 18 Items. Jedem Item kann ein Wert zwischen 1 (nicht vorhanden) und 7 (extrem stark) zugeordnet werden, sodass der höchste Wert eine maximale Ausprägung psychopathologischer Symptome anzeigt.

Für die vorliegende Studie wurden die Items 7 (Manieriertheit) und 8 (Größenideen) ausgeschieden, dementsprechend kann der Maximalwert (ausgeprägte Pathologie) 112, der Minimalwert (fehlende Pathologie) 16 betragen.

Die Beurteilung mittels der BPRS wurde nur bei den KlientInnen der prospektiven Gruppe und nur von den FachärztInnen für Psychiatrie vorgenommen.

 

 

1.2.4.6. Erhebungsablauf:

· Gruppe "retrospektiv lang":

1. Querschnittserhebung Gesamtgruppe: BMGMB, LQMGMB

2. Querschnittserhebung Teilstichprobe ca. 6 Monate nach Ersterhebung(s. Abschn. 3.12): BMGMB, LQMGMB

· Gruppe „retrospektiv kurz":

1. Querschnittserhebung Gesamtgruppe: BMGMB, LQMGMB

2. Querschnittserhebung Teilstichprobe ca. 6 Monate nach Ersterhebung(s. Abschn. 3.12): BMGMB, LQMGMB

· Gruppe „prospektiv":

1. Querschnittserhebung im Psychiatriebereich: BMGMB, LQMGMB, BPRS

2. Querschnittserhebung im extramuralen Wohnbereich ca. 1-3 Monate nach Übersiedlung: BMGMB, LQMGMB, BPRS

3. Querschnittserhebung im extramuralen Wohnbereich ca. 6 Monate nach Übersiedlung: BMGMB, LQMGMB, BPRS

 

 

 

 

 

 

ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE:

1.3. DEINSTITUTIONALISIERUNGSPROJEKT / EVALUATIONSSTUDIE

Die vorliegende sozialpsychiatrische Evaluationsstudie stellt eine Begleitforschung zu einem umfassenden und flächendeckenden psychosozialen Projekt der Stadt Wien dar: die Reintegration behinderter Menschen nach psychiatrischer Langzeithospitalisation in gemeinwesenintegrierte Wohn- und Lebensformen – Kurzbezeichnung „Ausgliederung behinderter Menschen aus psychiatrischen Einrichtungen".

In der ersten Phase der „Wiener Psychiatriereform" war die Gruppe behinderter Patienten ein sehr beschränktes Thema konkreter Strukturreform. Erst ein Grundsatzbeschluss des Gemeinderates im Jahr 1986 schuf mit der Absichtserklärung zur Schaffung von Wohnplätzen für behinderte Menschen und der darauf beruhenden Gründung der „ARGE Wohnplätze" die Voraussetzung für Veränderungen, von denen auch die behinderten Patienten profitieren konnten – der Prozess der DESINSTITUTIONALISIERUNG wurde eingeleitet. Dennoch lebten im Jahr 1996 noch etwa 150 behinderte Menschen fehlplatziert in psychiatrischen Krankenhausstationen in Wien, für die ab 1997 extramurale Wohnplätze geschaffen wurden. Auf der Grundlage eines im Jahre 1998 erstellten Konzepts wurde im Februar 1999 der Auftrag zur Durchführung einer Evaluationsstudie erteilt, deren Aufgabe es sein sollte, zu prüfen, ob der Prozess der Deinstitutionalisierung zu einer Verbesserung der Lebenssituation der betroffenen Menschen führt.

 

1.4. KLIENTEL / WOHNGEMEINSCHAFTEN:

Die in die Evaluationsstudie aufgenommenen N = 181 KlientInnen wurden nach dem Zeitpunkt ihrer Übersiedlung in folgende Subgruppen geteilt:

· Übersiedlung 1987-96 „retrospektiv lang"

· Übersiedlung 1996-97 „retrospektiv kurz"

· Übersiedlung ab 1998 „prospektiv"

In allen Subgruppen ist die Zahl der Männer wesentlich größer als die der Frauen. Das mittlere Alter liegt bei 43 (19 – 75) Jahren. Die mittlere Hospitalisierungdauer liegt bei 24 (0,2 – 52) Jahren.

Die KlientInnen wohnen nunmehr in insgesamt 48 Wohngemeinschaften, die von 11 verschiedenen Trägerorganisationen geführt werden. Die durchschnittliche Wohnfläche je KlientIn beträgt 28,9 m2, die durchschnittliche BetreuerInnenzahl 1,08 Personen.

Die Häufigkeit einer Beeinträchtigung der lautsprachlichen Kommunikation ist relativ hoch (fast 45%). Die Häufigkeit einer schweren Beeinträchtigung körperlicher Basisfunktionen ist relativ gering. Trotz hohem Ausmaß an Orientierungskompetenz ist die Mobilität außerhalb der WG relativ gering. Die Häufigkeit aggressiven Verhaltens ist deutlich höher als die Häufigkeit autoaggressiven Verhaltens.

1.5. GRUPPENVERGLEICHE:

Die KlientInnen der prospektiven Gruppe zeigen hinsichtlich ihrer Kompetenzen ein höheres Maß an Beeinträchtigung als jene der beiden retrospektiven Gruppen.

Die KlientInnen der Gruppe „retrospektiv lang" waren zum 1. Erhebungszeitpunkt im Durchschnitt deutlich kompetenter als die KlientInnen der beiden anderen Subgruppen. Die weitere Datenanalyse lässt den Schluss zu, dass – mit gebotener Vorsicht in der kausalen Interpretation – bei dieser Klientengruppe, die seit mehr als 10 Jahren im extramuralen Bereich lebt, das höhere Kompetenzniveau in den Bereichen Allgemeine Selbständigkeit und Kommunikation/Orientierung/Autonomie vermutlich auch mit der Dauer und den Bedingungen des extramuralen Lebens im Zusammenhang steht.

 

1.6. KLIENTENTYPEN / ÜBERSIEDLUNGSZEITPUNKTE:

Die Clusteranalyse erlaubt die Typisierung folgender Klientengruppen, die über die ursprüngliche Annahme einer 2-Gruppen-Gliederung (körperliche Behinderung vs. psychiatrische Symptomatik im Vordergrund) hinausgeht:

Der Kliententypus 1 (n=61; 34,7 % aller KlientInnen) ist charakterisiert durch hohe allgemeine Hilfsbedürftigkeit, große Defizite in Kommunikationsfähigkeit / Orientierung / Autonomie, geringe Auffälligkeit in den Bereichen Aggressivität und Depressivität, sowie schlechte Werte in den patientenbezogenen Items der Lebensqualitätsskala (= "die Schwerbehinderten").

Der Klientententypus 2 (n=67; 38,1 %) ist charakterisiert durch niedrige allgemeine Hilfsbedürftigkeit, gute Ergebnisse in Kommunikationsfähigkeit / Orientierung / Autonomie, geringen Auffälligkeiten hinsichtlich Aggressivität und Depressivität, sowie gute Werte in der patientenbezogenen Lebensqualität (= "die Kompetenten").

Der Klientententypus 3 (n=48; 27,3%) ist charakterisiert durch relativ geringe allgemeine Hilfsbedürftigkeit, gute Werte in Kommunikationsfähigkeit / Orientierung / Autonomie, hoher Auffälligkeit in den Skalen Aggressivität und Depressivität, sowie gute Werte in der patientenbezogenen LQ (= "die psychiatrisch Auffälligen").

Setzt man diese Typisierung in Bezug zu den Zeitpunkten der Übersiedlung, so zeigt sich,

dass in den frühen Jahren (vor 1996) kaum (10%) schwer behinderte (Klientententypus 1) sondern vorwiegend (62,0%) kompetente KlientInnen (Klientententypus 2) in den Genuss der Ausgliederung kamen.

in den Folgejahren (seit 1996) wurden wesentlich mehr (48,8%) schwer behinderte KlientInnen ausgegliedert

der Anteil der psychiatrisch auffälligen Klienten mit relativ hoher Kompetenz in den 2 Zeitperioden nicht nennenswert unterschiedlich war.

Allerdings muss berücksichtigt werden, dass der IST-Stand der Klientenmerkmale zum Zeitpunkt der Erhebung bei den KlientInnen der Gruppe „retrospektiv lang" auf dem Hintergrund einer jahrelangen extramuralen Lebensphase, bei denen der Gruppe „retrospektiv kurz" nur einer relativ kurzen extramuralen Lebensphase zu projizieren ist.

 

1.7. ASPEKTE VON LEBENSQUALITÄT:

Der Vergleich zwischen den Lebensbedingungen (institutionelle und personenspezifische Aspekte) in Wohngemeinschaften und jenen im Krankenhaus fällt – erwartungsgemäß - eindeutig zugunsten der Wohngemeinschaften aus. Dies wird auch in jener Gruppe besonders deutlich, deren Übersiedlung wir begleitet haben: mit der Übersiedlung tritt eine signifikante Verbesserung ein. Aber auch jene KlientInnen, die bereits früher - nach 1996 - übersiedelt waren, zeigen bei der follow up - Erhebung noch eine weitere Verbesserungen ihrer Lebensqualität.

In den Wohngemeinschaften ist die Zugänglichkeit lebensrelevanter Bereiche in hohem Ausmaß gegeben. Auch die Verfügbarkeit der Privatsphäre in der WG ist in hohem Maße gewährleistet. Die Freizeitgestaltung außerhalb der WG zeigt ein sehr eingeschränktes Spektrum. Bei mehreren Items zeigt sich, dass mit der Zugänglichkeit von Angeboten des öffentlichen Lebens in hohem Maße auch deren reale Nutzung verbunden ist (öffentlichen Verkehrsmitteln, Supermarkt/ Greißler, Gasthaus/ Cafe).

 

1.8. BETREUEREINSTELLUNGEN:

Die Frage nach der Lernfähigkeit der KlientInnen hat sich als markanter Parameter für die Einstellung der BetreuerInnen erwiesen: die BetreuerInnen der Wohngemeinschaften schließen weitere Lernfähigkeit nur in etwa 10% aus, während in 90% Lernfähigkeit zugeschrieben wird. Von den KrankenhausmitarbeiterInnen wird Lernfähigkeit hingegen bei fast 40% der KlientInnen ausgeschlossen.

1.9. PSYCHIATRISCHER BEFUND:

Die KlientInnen der prospektiven Gruppe zeigen zu allen Untersuchungszeitpunkten eine – unerwartet - niedrige Ausprägung an Psychopathologie. Die höchsten Werte zeigen die Items: emotionale Zurückgezogenheit, Gespanntheit, unkooperatives Verhalten, Erregung, Orientierungsstörung. Überdies zeigt der psychopathologische Befund deutliche Veränderungen im Verlauf der Übersiedlung: im unmittelbaren Zusammenhang mit der Übersiedlung sehen wir eine Intensivierung der Psychopathologie (Irritationsphase), die von einer Stabilisierung (Rückkehr zum Ausgangsniveau) in den folgenden Monaten (Stabilisierungsphase) gefolgt ist.

1.10. PERSPEKTIVEN:

Das Projekt der Reintegration behinderter Menschen wurde durch Schaffung der organisatorischen und fachlichen Rahmenbedingungen erfolgreich durchgeführt und abgeschlossen. Parallel dazu wurden die Grundstrukturen der erforderlichen begleitenden psychiatrischen Betreuung entwickelt. Mit der Befriedigung des Nachholbedarfs, der über Jahrzehnte angewachsen war, kann dieser Prozess aber keineswegs als abgeschlossen betrachtet werden. Vielmehr müssen die Erfahrungen genützt werden, um die erzielten Effekte nachhaltig zu sichern und Rückfälle zu vermeiden.

 

ERGÄNZENDE DISKUSSION:

 

1.11. DEINSTITUTIONALISIERUNG

Der Prozess der Deinstitutionalisierung behinderter Menschen erstreckte sich in Wien über einen Zeitraum von etwa 15 Jahren: der ZIELPLAN (1979) hat zwar auf dieses Thema hingewiesen, die reale Umsetzung wurde aber erst 1986 in Angriff genommen und die letzte Phase, die sich auf die Gruppe schwer behinderter Menschen (psychiatrisch bzw. somatisch) bezog wurde schließlich 1997 gestartet und 2001 abgeschlossen. Auch in anderen europäischen Länder wurden einschlägige Projekte etwa im selben Zeitraum realisiert; die folgende Tabelle zeigt dies an Beispielen, über die in wissenschaftlichen Publikationen berichtet wurde :

LAND

AUTOR

PUBLIKATION

KLIENTENZAHL

DEINST..-ZEITRAUM

NORWEGEN

TOSSEBRO J.

2000

Ges. N = 550

Eval. N = 396

1989 - 1994

SCHWEDEN

ZAKRISSON I.

1996

Ges. N = 81

Eval. N = 68

1990 - 1992

GB

DAGNAN D. et al.

1996

Eval. N = 4

1992

 

ROY M., ABDALLA M. et al.

1994

Eval. N = 3

1991 - 1992

DEUTSCHLAND

BUNDSCHUH W., DWORSCHAK W.

2002

Projekt „LEQUA" (laufende Studie; Umfang?)

2000 - 2003

 

Das Wiener Deinstitutionaliserungsprojekt und die vorliegende Evaluationsstudie nimmt somit im internationalen Rahmen hinsichtlich des Zeitpunktes und des Umfangs eine mittlere Position ein. Es wurde – ähnlich wie beispielsweise in Norwegen - als flächendeckendes sozialpolitisches Projekt umgesetzt und mit den erforderlichen strukturellen Voraussetzungen ausgestattet.

1.12. LEBENSQUALITÄT

Es entspricht dem wissenschaftlichen Standard, Lebensqualität als Evaluationskriterium für sozialpolitische und gesundheitsbezogene Maßnahmen und auch in der Evaluation der Lebensbedingungen behinderter Menschen einzusetzen (CRAWFORD et al. 1999; SCHWARTE, OBERSTE-UFER 1994; SCHALOCK 1995). KATSCHNIG (1997) definiert folgende Parameter von Lebensqualität: subjektives Wohlbefinden / Funktionieren in sozialen Rollen / externe Ressourcen (materielle Ressourcen; soziale Netze), die durch folgende Beurteiler bewertet werden: selbst / Angehörige / Professionisten. In der LQ-Forschung wird die Position vertreten den Begriff „Lebensqualität" nur dann zu verwenden, wenn alle Dimensionen des Konzepts erfasst werden können oder anderenfalls auf diesen Begriff zu verzichten (NORD et al. 2001).

In unserer Evaluationsstudie mussten wir auf essentielle Parameter (Selbstbeurteilung durch die KlientInnen, Angehörigenbeurteilung) verzichten. Wir haben uns dennoch entschlossen, die verbleibenden Kriterien von Lebensqualität als solche zu bezeichnen und dieses Kriterium in die Evaluation zu inkludieren. Selbstverständlich bedeutet dies eine Reduktion des LQ-Konzepts auf die extern beobachtbaren Items und durch den Wegfall der subjektiven Perspektive eine normative Akzentuierung. Die für das vorliegende Projekt entwickelte Skala LQMGMB umfasst Items über die institutionsbezogenen und über die personenspezifischen Kriterien von Lebensqualität. Insbesondere die Subskala personenspezifische Kriterien von LQ erwies sich als differenziertes Messinstrument, das die Veränderungen deutlich abbildete. Die institutionsbezogenen Items waren gut geeignet, die Veränderung der Lebenssituation und die Nutzung der neuen Gegebenheiten darzustellen.

1.13. KOMPETENZEN / VERHALTENSWEISEN / DEFIZITE

Die Beschreibung von Merkmalen der KlientInnen erfolgt in der wissenschaftlichen Literatur anhand verschiedener Erhebungsinstrumente. Für die vorliegende Evaluation haben wir einen Fragebogen (BMGMB) entwickelt, der den spezifischen Bedingungen dieser Studie angepasst ist. Die statistische Prüfung hat die Subskalen diese Fragbogens bestätigt.

Die Items dieses Fragebogens erwiesen sich in erster Linie zur Charakterisierung der Klientel und zur Durchführung der Clusteranalyse geeignet, hingegen sind die Veränderungen in diesen Bereichen – entgegen unseren Erwartungen - relativ gering.

 

1.14. AUSBLICK

1.14.1. AKTUELLE PROBLEME

Die hier vorgelegte begleitende Evaluationsstudie zeigt, dass die Übersiedlungsperiode der Deinstitutionalisierung organisatorisch und inhaltlich gut bewältigt wurde. Folgende Entwicklungen sind – außerhalb der Evaluationsstudie – im Rahmen der klinischen Betreuung erkennbar:

Die klinischen Beobachtungen weisen auf einen Umstand hin, der zum Zeitpunkt der Evaluation noch nicht absehbar war: Bei einer kleinen Gruppe von Klientinnen treten nach einer erstaunlich langen Latenzphase Symptome auf, die gelegentlich zur stationären Krisenintervention im Krankenhaus Anlass geben. In diesen Fällen ist meist eine Modifikation des Betreuungssettings (Verdichtung der Betreuung, Änderung des Wohnsettings etc.) erforderlich. Für diese Maßnahme reicht der vorgesehene Finanzrahmen („Psychiatrie - Ausgliederungstagsatz") oft nicht aus. Zur weiteren Sicherung der extramuralen Betreuung ist es notwendig, für diese kleine Gruppe die Möglichkeit der vorübergehenden Erhöhung der Betreuungsintensität auf der Grundlage eines fachlich (behindertenpädagogisch-psychiatrisch) legitimierten Betreuungskonzepts bereitzustellen.

Für die Gruppe von jugendlichen KlientInnen mit Behinderung und Verhaltensauffälligkeiten (dual diagnosis), die sich durch das Älterwerden aus ihren Herkunftsfamilien bzw. Betreuungsinstitutionen für behinderte Jugendliche (MAGELF) lösen besteht ein kontinuierlicher Bedarf nach betreuten Wohnangeboten. Wird die Deckung dieses Bedarfs nicht realisiert, droht die Gefahr der neuerlichen Hospitalisierungstendenz: psychiatrische Einrichtungen würden sich sukzessive wieder mit behinderten Menschen füllen.

 

1.14.2. PERSPEKTIVEN PSYCHIATRISCHER BETREUUNGSSTRUKTUREN FÜR BEHINDERTE MENSCHEN

Allgemeine Richtlinien für das medizinische / psychiatrische Handeln ergeben sich daraus, dass

psychiatrische Einrichtungen nicht als Lebensraum, sondern als ergänzende und unterstützende Angebote zu fungieren haben;

geistige Behinderung per se keine psychische Krankheit ist;

geistig behinderte Menschen ebenso wie alle anderen Menschen "psychisch krank" sein können und die pathogenetischen und nosologischen Konzepte, die uns heute - in all ihrer inhaltlichen Beschränktheit - zur Verfügung stehen, somit in gleicher Weise für (geistig) behinderte Menschen Gültigkeit haben;

für geistig behinderte Menschen das gleiche Inventar psychiatrischer Interventionsformen anzuwenden ist, wie sonst auch - Psychotherapie, Psychopharmakotherapie, soziale Therapie.

Die psychiatrische Behandlung und Begleitung von Menschen mit Behinderung und psychischen Störungen muss als Teil eines umfassenden sozialpsychiatrischen Betreuungskonzeptes durchgeführt werden.

Die Bedingungen von Isolation und mangelnder Selbstbestimmung ("Autonomie"), die in der Lebenswelt (geistig) behinderter Menschen bestimmend sind, führen beim Auftreten von psychischen Störungen häufig zu charakteristischen Symptomkonstellationen (Aggression, Autoaggression, somatische Störungen etc.), die spezifische Bewältigungsstrategien erfordern. Beeinträchtigungen der Kommunikationsfunktionen erfordern gegebenenfalls von den Helfern die Bereitschaft und Möglichkeit zur Anwendung spezieller Kommunikationsformen. MitarbeiterInnen in der allgemeinen Psychiatrie verfügen oft über dieses Wissen nicht in ausreichendem Maße. Überdies hat die Zuschreibung "geistige Behinderung" einen Etikettierungs-Effekt mit Auswirkungen auf die Beurteilung des Verhaltens (Verringerung der Toleranz und Unterschätzung der klinischen Relevanz) (BRUININKS et al. 1988). Somit ergeben sich wesentliche Argumente für ergänzende Organisationsformen in der psychiatrischen Betreuung (geistig) behinderter Menschen:

Verzahnt in die psychiatrische Regelversorgung sind spezifische psychiatrische Dienste für (geistig) behinderte Menschen zu planen, die von den allgemeinen Richtlinien in der Betreuung behinderter Menschen auszugehen haben: Überwindung von Isolation (JANTZEN 1979), Normalisierungsprinzip (NIRJE 1974), Gemeinwesenintegration (ÖKSA 1986). Dementsprechend sind multidisziplinäre, kooperative Handlungsmodelle (BRADL 1993) mit enger Verknüpfung von Psychiatrie, Behindertenpädagogik und Sozialarbeit vorzusehen, die es möglich machen, die Bedürfnisse der Betroffenen jeweils individuell und aktuell zu analysieren und die Hilfsangebote dementsprechend mehrdimensional zu gestalten.

Mit "Verzahnung in die psychiatrische Regelversorgung" ist folgende Konzeption gemeint: Psychiatrische Betreuungsangebote für behinderte Menschen sind so zu strukturieren, dass Spitalsaufenthalte soweit wie möglich vermieden werden können, indem die erforderlichen Hilfen wohnortnahe als extramurale Dienste angeboten werden. Die Strukturen einer gemeindenahen psychiatrischen Versorgung (niedergelassene Fachärzte, sozialpsychiatrische Ambulatorien mit multidisziplinäre Teams und 24-Stunden-Bereitschaftsdienst, psychiatrische Stationen in Allgemeinkrankenhäusern) sind Träger der gesamten psychiatrischen Primärversorgung jeweils für eine Region - zuständig somit auch für die psychiatrische Betreuung (geistig) behinderter Menschen. In der zweiten Versorgungslinie gibt es Angebote spezialisierter Hilfe (multidisziplinäre Teams) für komplexe Problemkonstellationen behinderter Menschen, die auch präventive Strategien verfolgen: durch Verbesserung der Coping - Strategien ist eine Verminderung des erhöhten Erkrankungsrisikos zu erwarten. Diese Tätigkeit ist in Form eines Liaisondienstes organisiert, der psychiatrische Beratung und Begleitung der BetreuerInnenteams, (und auch Fortbildung für die MitarbeiterInnen der allgemeinpsychiatrischen und der behindertenpädagogischen Dienste) anbietet. Die folgende Abbildung stellt dieses Konzept, das parallel zum Wiener Deinstitutionalisierungsprojekt partiell realisiert wurde, in grafischer Form dar.