NEUROREHABILITATION BEI KINDERN
UND JUGENDLICHEN

Endbericht
Jänner 1997

 

KURZFASSUNG

 

Ernst Berger

 

 

 

 

STUDIE

1.9.1993 - 31.8.1996

 

 

 

mit Unterstützung des Medizinisch - wissenschaftlichen Fonds des
Bürgermeisters der Bundeshauptstadt Wien

 

 


Die Fragestellungen der Studie wurden vor allem auf den Bedarf nach Angeboten in der stationären Phase sowie nach der Organisation der Betreuung in der poststationären Phase der neurologischen Rehabilitation konzentriert.

Der Begriff Acquired Brain Injury (ABI) wurde zur Definition der Patientengruppe gewählt: akute Schädigung der Gehirnfunktion im Kindes- u. Jugendalter durch jedwede Ursache (traumatisch, hypoxisch, entzündlich etc.). die Altersgrenze wurde mit 1. - 19. Lebensjahr festgelegt. Wir beschränkten die Studie auf Patienten mit schweren Schädigungen (severe injury), die nach Voraufenthalten auf Intensivstationen zur neurologischen Rehabilitation überwiesen wurden.

 

1. Inzidenzstudie:

Im Zeitraum von 12 Monaten (1.9.1993 - 30.8.1994) wurden N = 18 (w = 8 = 44,4% / m = 10 = 55,6%) Patienten wegen schwerer akuter Cerebralläsionen in bewußtlosem Zustand im Raum Wien stationär aufgenommen. Der Altersdurchschnitt lag bei 7;5 Jahren (1;4 a - 17;0 a). Die

Primäre Letalität (Exitus an der Erstversorgungs-Institution / Intensivstation) lag bei NL = 3 (16,7%).

Die jährliche Inzidenz von rehabilitationsbedürftigen Kindern und Jugendlichen nach schweren ZNS-Läsionen im Raum Wien beträgt somit N = 15.

 

2. Verlaufsstudie zur stationären Rehabilitation:

Die Gesamtzahl der Patienten, die ab 1.9.93 aufgenommen und bis 31.8.96 entlassen wurden beträgt N = 38 (w = 14 = 36,8% / m = 24 = 63,2%). Altersdurchschnitt: 7;8 (w 7;1 / m 8;1) (1;9 a - 17;1 a)

Schädigungsursache:

71,1%..............UNFÄLLE und 28,9%.....KRANKHEITEN

Gliederung nach ätiologischen Gesichtspunkten:

44,7% ....... traumatisch
39,5% ....... hypoxisch
15,8% ........ vaskuär, entzündlich

 

3. Follow up - Studie:

In die Nachuntersuchung - etwa 6 Monate nach Abschluß der stationären Rehabilitationsphase - konnten N = 31 Patienten (w = 10 = 33,3% / m = 20 = 66,6%) aufgenommen werden.

 

 


4. ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE:

 

Die Inzidenzstudie stellt ein reales Abbild der regionalen Situation in Wien dar. Die Verlaufsstudie hingegen ist unter epidemiologischen Gesichtspunkten nicht repräsentativ, da die Zuweisungsgesichtspunkte nicht bestimmbar sind!

 

4.1. Inzidenz, Bettenbedarf:

Die Inzidenz von N = 15 Kindern und Jugendlichen pro Jahr in Wien liegt wesentlich niedriger, als man auf den ersten Blick angesichts einer Zahl von 4289 Straßenverkehrsunfällen von Kindern im Jahr 1995 in Österreich (Kuratorium für Verkehrssicherheit) annehmen könnte.

Nach den vorliegenden Daten ist für Wien von einem Bedarf von etwa 7 Betten zur neurologischen Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen auszugehen.

 

4.2. Schädigungsursachen:

Hinsichtlich möglicher Präventionsstrategien ist die Aufgliederung der Schädigungsursachen nach pathogenetischen Gesichtspunkten relevant; hier ist insbesondere die Zahl von 71% (Verlaufsstudie) bis 88% (Inzidenzstudie) unfallsbedingten Läsionen hervorzuheben; die Verkehrsunfälle liegen mit 50% (Inzidenzstudie) und 40% (Verlaufsstudie) deutlich an der Spitze. Unter den übrigen Unfallursachen nehmen die Ertrinkungsunfälle mit 22% (Inzidenzstudie) bzw. 18% (Verlaufsstudie) einen nennenswerten Platz ein.

 

Hinsichtlich der Rehabilitationsergebnisse hingegen ist die Gliederung nach ätiologischen Gesichtspunkten von größerer Bedeutung, da die hypoxisch geschädigten Patienten (33% Inzidenzstudie bzw. 40% Verlaufsstudie) die schlechtere Prognose aufweisen.

 

4.3. Versorgungsstruktur:

Der relativ niedrige Altersdurchschnitt von 7;8 Jahren zeigt den Schwerpunkt im Kindesalter, die weite Streuung von 1;9 a - 17;1 a zeigen, daß das Betreuungsangebot den Gesamtbereich des Kindes- u. Jugendalters abdecken muß.

 

Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer von 15,5 Wochen erscheint auffallend niedrig. In Ermangelung systematisch erhobener Vergleichszahlen aus der internationalen Literatur sei zum Vergleich die Durchschnittszahl von 21 Wochen aus unserer Pilot - Studie 1990-93 sowie eine Schätzzahl von 6-9 Monaten aus der BRD angeführt.

 

Ein weiterer relevanter Faktor ist das niedrige Funktionsniveau der Patienten bei der Übernahme in die Neurorehabilitation: Knapp 3/4 sind als minimal responsiv zu klassifizieren, mehr als 60% müssen zur Gänze künstlich ernährt werden, Herzfrequenzstörungen und vegetative Krisen treten bei etwa der Hälfte der Patienten auf. In diesen Zahlen kommt das Betreuungsniveau der intermediate care (Phase Ib bzw. Phase B nach LKF) deutlich zum Ausdruck.

 

Die Chance zur Restitution der Bewußtseinsfunktionen war in unserer Klientel 12 Wochen nach der Übernahme (entspricht im Durchschnitt etwa 120 Tage nach dem Schädigungseintritt) weitgehend entschieden; ab diesem Zeitpunkt fanden wir keine nennenswerten Veränderungen mehr. Für die übrigen Funktionsbereiche, die mit den diversen Skalen zur Beurteilung der Alltagskompetenzen gemessen werden, trifft dies keineswegs zu. Hier sind wesentlich längere Restitutionsintervalle einzuplanen, die allerdings in vielen Fällen besser im Rahmen der ambulanten Betreuung organisiert werden.

 

Die durchschnittliche Therapie-Intensität ist für die Dauer der stationären Phase mit insgesamt 242 Therapieeinheiten je Patient (ca. 16 EH pro Woche) zu veranschlagen. Der Anteil der Physiotherapie liegt deutlich an der Spitze, gefolgt von Ergotherapie und Logopädie; der Anteil der Rehabilitationspädagogik ist - da im Krankenhausbereich noch keineswegs selbstverständlich - besonders zu betonen. Wir glauben, daß die Strategien der Früh-Aktivierung und der hohe Stellenwert, den wir der sozialen Reintegration bereits im stationären Setting zumessen, die wesentlichen Faktoren dafür sind, daß wir Prozesse der sozialen Desintegration trotz hohem Anteil an langfristig bestehenden Funktionseinschränkungen hintanhalten konnten.

 

Die poststationäre Weiterbetreuung ist bei mehr als 8o% der Indikationsstellungen auch tatsächlich realisierbar. Grenzen der Realisierbarkeit entstammen meist der familiären Dynamik oder sind auf Betreuungsdefizite bei Fortbestehen des minimal responsiven Zustandes zurückzuführen. In der konkreten Realisierung spielen verschiedene Institutionen - auch außerhalb des klassischen medizinischen Systems - eine Rolle. Jedenfalls kommt wohnortnahen Einrichtungen die entscheidende Bedeutung zu.

 

4.4. Minimally responsive patient:

Im Rahmen einer in den letzten Jahren neu belebten Diskussion ("Neue Euthanasie") wird das Thema der "Lebenserhaltung" komatöser und apallischer Patienten in wachsendem Maß als ethisches Problem diskutiert. Ohne an dieser Stelle die ganze Breite der ethischen Diskussion wiedergeben zu können, soll aus der Warte unerer Studie Position bezogen werden.

Eine die zentralen Prämissen in dieser Diskussion ist die der "Hoffnungslosigkeit" eines Zustandes. In einer umfassenden Übersicht zum Thema "minimal responsive patient" (O´DELL, RIGGS 1996) weisen die Autoren darauf hin, daß es keine brauchbaren Prognosefaktoren über den Verlauf dieses Zustandes gibt und daß Parameter, die eine Gruppenprognose zulassen, nicht notwendigerweise auch für die individuelle Prognose gültig sind. Damit wird aber das Argument der "Hoffnungslosigkeit" substantiell in Frage gestellt.

 

In unserer Studie sinkt der Anteil der minimal responsiven Patienten während der stationären Rehabilitationsphase von 73,7% auf 18,4%. Nach weiteren 6 Monaten (follow up) erreichen 36,4% von den ursprünglich minimal responsiven Patienten einen GOS-Wert von > 5.

 

Demnach ist bei vielen Patienten, die etwa 3-4 Wochen nach dem Schädigungsereignis in einem minimal responsiven Zustand zur Rehabilitation kommen in den nächsten Monaten mit deutlichen Restitutionsverläufen zu rechnen.

 

Überdies ist darauf hinzuweisen, daß auch auf niedrigem Funktionsniveau (Vigilanz-Score 2-7) basale Dialogstrukturen etablierbar waren. Wir sehen damit auch bei diesen Patienten die Grundform sinnstiftenden zwischenmenschlichen Austauschs realisiert.

 

Die poststationäre Versorgungsrealität jener Kinder, die auf niedrigem Bewußtseinsniveau bleiben, zeigt allerdings die nach wie vor bestehenden großen Schwierigkeiten in der Betreuung minimal responsiver Kinder. Der Anspruch auf "Langzeit-Förderpflege" ist meist nicht einlösbar.

 

4.5. Familien

Bereits in der stationären Rehabilitationsphase waren die Familien an der Betreuung der Patienten - meist im Rahmen regelmäßiger Besuche - intensiv beteiligt. Bei gut 1/5 geschah dies in Form einer Mitaufnahme der Mutter. Ab der 3. Rehabilitationswoche waren mehr als 40% der Patienten auf Wochenendausgang bei ihren Familien zuhause. Mehr als 3/4 der Patienten kehrten - trotz der oft hohen funktionellen Beeinträchtigung - nach der Rehabilitation in ihre Familien zurück. Dies zeigt die große Bereitschaft der Familien, ihre Kinder auf dem monatelangen Weg der Rehabilitation zu begleiten und sie - trotz Beeinträchtigungen - wieder in den Familienverband zu integrieren.

 

Die Rückkehr der beeinträchtigten Kinder in die Familie war allerdings anfangs vielen Eltern nicht vorstellbar und bedurfte eines hohen Maßes an professioneller Vorbereitung, Stützung und Begleitung. Die auf diese Weise wiederhergestellten familiären Lebenssituationen erwiesen sich zwar nicht als konfliktfrei und reibungslos, aber - soweit in den ersten 6 Monaten beurteilbar - als stabil und tragfähig.

 

Drei Patienten hatten beim Unfall ihre Mütter verloren und wurden im Rahmen des weiteren Familien- oder Freundeskreises aufgenommen.

 

4.6. Rehabilitationsergebnisse:

Das Ergebnis der stationären Rehabilitationsphase zeigt anhand der GOS - Werte deutlich das relativ hohe Ausmaß der Residualsymptomatik: Die Häufigkeit guter Wiederherstellung lag lediglich bei 21%, während fast 45% schwere Beeiträchtigungen zeigten. Allerdings liegt diese Zahl deutlich unter der in der Literatur angegebenen Handicap-Quote von 100% bei ABI / severe level.

 

Betrachtet man die Rehabilitationsergebnisse 6 Monate später, so zeigen sich zwar bei fast 40% aller Patienten weitere Verbesserungen, die das Gesamtbild (der GOS-Werte) aber nur unwesentlich verändern. Und auch der Blick auf einzelne Beeinträchtigungen macht das Ausmaß der Residuen deutlich: Bei weniger als 1/4 der Patienten sind beispielsweise Fortbewegung und Kommunikation unbeeiträchtigt und mehr als die Hälfte aller Patienten (tw. bis 66%) hat Hilfsbedarf in allen wesentlichen Bereichen des persönlichen Alltags.

 

Ein völlig anderes Bild vermittelt hingegen der Blick auf die soziale Ebene: mehr als 3/4 aller Patienten konnten in ihre Familien zurückkehren; bei 2/3 war eine Rückkehr in die ursprünglichen außerfamiliären Betreuungen (Kindergarten, Schule) möglich; Freundeskontakte und Freizeitgestaltung konnten bei 40% uneingeschränkt wiederaufgenommen werden; bei 90% ist das soziale Netz insgesamt tragfähig.

 

Somit ist festzuhalten, daß es trotz beträchtlicher Funktionseinschränkungen und umfangreicher Residualsymptomatik gelungen ist, Prozesse sozialer Desintegration zu vermeiden.

 

Setzt man die GOS - Verteilung in Beziehung zu diversen Einflußfaktoren, so zeigt sich, daß die Rehabilitationsergebnisse dann besser sind, wenn es sich um traumatische Läsionen handelt und wenn die Bewußtseinslage zu Beginn der Rehabilitation relativ gut ist.

 

4.7. Prävention:

Überlegungen zur Prävention haben von den Schädigungsursachen auszugehen. Hier stehen Unfälle - und unter diesen wiederum die Verkehrsunfälle - an erster Stelle. Somit erscheint auch aus unserer Warte die auch in der Öfentlichkeit oft diskutierte Strategie zur Vermeidung von Kinderunfällen als wichtiger Präventionsfaktor.

 

Auf die hohe Zahl von Ertrinkungsunfällen (etwa 20%) ist speziell hinzuweisen; hier spielen private Swimmingpools eine besondere Rolle!