VON DER SCHULVERWEIGERERKOMMISSION ZUR PSYCHOSOZIALEN KOMMISSION – INTERDISZIPLINÄRE KOOPERATION ZUM WOHLE DER WIENER SCHULKINDER[1]

 

Ernst Berger

 

 

  1. DER START – DIE RICHTUNG:

 

Im Juni 1982 endete die Enquete „Schulverweigerung als gesellschaftliches Problem“ mit der Feststellung (JUGENDAMT 1982): „Eine Kommission aus Mitgliedern des Stadtschulrates, der Universitätsklinik für Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters und des Jugendamtes soll ab Herbst 1982 versuchen, gemeinsame Strategien für die Arbeit mit Schulverweigerern zu entwickeln.“

 

Im Rahmen der Enquete war die Komplexität des Problems „Schulverweigerung“ – bereits in der Themenstellung angedeutet - deutlich geworden. Der Lösungsweg, der eingeschlagen wurde, war charakteristisch für den Umgang mit psychosozialen Problemen in den 1970-er und 80-er Jahren: An die Stelle „einfacher“ Antworten sollten komplexe Strategien treten, die der Vielfalt der Einflussfaktoren gerecht werden. Dieser Ansatz unterscheidet sich deutlich von der heutigen Tendenz zu schnellen und kostengünstigen Lösungen – es ist wert, ihn aus heutiger Perspektive nachzuzeichnen.

 

Das Protokoll der konstituierenden Sitzung dieser Kommission vom 3.11.1982, die aus jeweils 4 – 6  leitenden MitarbeiterInnen der beteiligten Institutionen gebildet wurde, definierte folgende Ziele:

 

 

 

Elf Jahre später (23. 9. 1993) ist die Sitzung der „Psychosozialen Kommission“ – die Kommission wurde mittlerweile umbenannt - dem Thema „Schulverweigerer – noch aktuell?“ gewidmet. Dem Protokoll ist folgendes Resumé zu entnehmen: Das Problem „Schulverweigerung“ existiert nach wie vor, ist aber in den Hintergrund getreten, die Zahl hartnäckiger und meist aussichtsloser Fälle ist gering; die von der Schule gesetzten Maßnahmen sowie die Intensivierung der Zusammenarbeit von Schule und Jugendamt haben Erfolge gezeigt, die Toleranz gegenüber Verhaltensauffälligkeiten ist gestiegen. Ziel der Schulbehörde ist es, Kinder mit verschiedenen Problemen nicht mehr auszusondern, sondern durch Einsatz der jeweils erforderlichen sonderpädagogischen Förderung vor Ort integrativ zu betreuen. Andere Probleme sind in den Vordergrund getreten: Verhaltensauffälligkeiten von Kindern im Vorschul- und Schuleintrittsalter, Suchtmittelkonsum von Schulkindern und Jugendlichen.

 

  1. DIE SCHULVERWEIGERER-KOMMISSION – INHALTE UND ENTWICKLUNGEN

 

In einem Zwischenbericht (September 1983) wird der Arbeitsansatz der Kommission so formuliert: „Anstoß für die gemeinsame Enquete war  ... die Häufigkeit von Schulverweigerung, die Ausmaße angenommen hatte, die es notwendig erscheinen lässt, sich konkret damit zu befassen. ... Es geht um verstärkte Zusammenarbeit der beteiligten Institutionen, um die Einbeziehung ungewöhnlicher therapeutischer Maßnahmen, da die herkömmlichen vielfach scheitern und um ausgedehnte prophylaktische Überlegungen.... Das Ursachenfeld der Schulverweigerung ist sehr komplex, intrafamiliären Lebensbedingungen und schulischen Bedingungen kommt wesentliche Bedeutung zu; dementsprechend können Hilfsmaßnahmen nur in enger, regional betonter Kooperation zwischen den drei Institutionen effektiv werden.“

 

Von folgenden Bedingungsfaktoren (Zwischenbericht 1983) wurde ausgegangen:

 

1. Das Kind selbst: Bei den Schulphobien handelt es sich um neurotisch oder allgemein ängstliche Kinder; ... bei Schulschwänzern ist das Interesse an der Schule geringer als bei anderen und sie neigen zum Vermeidungsverhalten als Reaktion auf unangenehme Situationen.

 

2.Die Familie: Bei den Schulphobien bestehen im allgemeinen intakte Familien mit sehr engen, oft problematischen Beziehungen; Schulschwänzer kommen häufiger aus unvollständigen ... und sozial benachteiligten Familien, 31% sind ausländische Kinder.

 

3. Die Schule: Die höchsten Anteile finden sich in Allgemeinen Sonderschulen und Polytechnischen Lehrgängen, es gibt (RUTTER et al. 1979) auch große Unterschiede zwischen Schulen derselben Schulart, für die das `Schulklima`(eine Summe interner Prozessmerkmale) eine entscheidende Rolle spielt“

 

Noch bevor die Kommission erste Maßnahmen ihrer Zielsetzung in die Öffentlichkeit tragen konnte, wurden Gegenpositionen formuliert: In einem Schreiben von ca. 20 LehrerInnen wurde im April 1983 gefordert, „besonders schwierige, weil bedrohend wirkende Kinder sofort in entsprechende Sondererziehungsanstalten zu überstellen“. Dies zeigte, wo einer der Brennpunkte der Probleme lag: Haltungen und Einstellungen einerseits und Strukturen andererseits mussten verändert werden.

 

Bald zeichneten sich die Themen ab, die die Arbeit der Kommission in den nächsten Jahren prägen sollten:

 

2.1. Suspendierungen und Verwaltungsstrafen:

 

Die Sinnhaftigkeit der gesetzlich vorgesehenen Maßnahmen wurde – angesichts ihrer offensichtlich geringen Wirksamkeit – zur Diskussion gestellt. Welchen Sinn macht es, von Eltern, die von der Sozialhilfe leben, eine Verwaltungsstrafe einzuheben? Fördert die  Suspendierung (Untersagung des Schulbesuchs als Disziplinarmaßnahme) nicht die Tendenz zur Schulverweigerung?

 

Eine erste Erhebung zeigte, dass es große regionale Unterschiede sowohl in der Häufigkeit von längeren Schulabsenzen, als auch in der Häufigkeit der Verhängung von Verwaltungsstrafen gab. Zweieinhalb Jahre nach ihrer Gründung startete die Kommission die  Initiative zur Einleitung einer Studie zur Analyse dieser Unterschiede. Ein weiteres Jahr später lagen die ersten Ergebnisse vor:

 

 

Auch in einer umfangreichen Untersuchung (RUTTER et al. 1979) war bereits nachgewiesen worden, dass das „Schulklima“ in hohem Maße mit der Wahrscheinlichkeit von Schulverweigerung korreliert. Die vorliegenden Zwischenergebnisse wiesen – stark vereinfacht -  in die gleiche Richtung:  Wenn man sich mit den Kindern auseinandersetzt und sie akzeptiert, dann kommen die Kinder gern (Protokoll 30.9.1986). Wiederum war klar geworden, dass Haltungen und Einstellungen der Lehrpersonen einer der Ansatzpunkte für die Bewältigung des Problems waren.

 

2.2. Sozialpädagogische Schulmodelle

 

Die Frage, ob spezifische Schulmodelle einen Beitrag dazu leisten könnten, SchülerInnen wieder an die Schule heranzuführen, war naheliegend und führte zur Konzeption von zwei Modellvarianten:

 

 

 

Das „Bauernhofprojekt“ wurde in modifizierter Form realisiert und besteht noch heute. Das Modell „ambulante Betreuung“ blieb in der Planungsphase stecken. Ein ähnlicher – ebenfalls nicht unmittelbar realisierter – Vorschlag war die Schaffung eines „Lehrer-Pools“ für den flexiblen, bedarfsorientierten Einsatz.

 

2.3. Regionalteams

 

Drei Bezirksjugendämtern (1/8/9, 20 und  21) wurden im April 1983 für den Start der Arbeit der Regionalteams ausgewählt: Alle zwei Monate treffen die SozialarbeiterInnen, die Bezirksschulinspektorin, einzelne DirektorInnen und LehrerInnen, VertreterInnen der therapeutischen Einrichtungen des Bezirks sowie ein Kinderpsychiater zusammen, um Fallbesprechungen durchzuführen und übergeordnete Strategien zu diskutieren. Das Modell wurde in der Folge auf mehrere Bezirke ausgeweitet. Im Mai 1984wurde eine Zwischenbilanz gezogen: Die Erfahrungen waren durchwegs positiv - es war zu einer Annäherung der Institutionen gekommen, in vielen Einzelfällen konnten Probleme frühzeitig aufgegriffen und Lösungsansätze entwickelt werden, in einigen Teams stand die Diskussion über übergeordnete Strategien im Vordergrund.

 

Im September 1986 wurden die Ergebnisse einer Umfrage in den Bezirksjugendämtern  referiert: 13 Regionalteams äußerten sich sehr positiv; in drei Teams herrschte die Meinung vor, dass sich nicht viel geändert habe, aber Chancen weiterer Entwicklungen bestünden; in einem Bezirk kam keine Kooperation zustande, da seitens der Schule die Auffassung bestand, dass es keine Probleme gäbe. Aus einigen Teams wurden auch Ermüdungserscheinungen berichtet.

 

Zur neuerlichen Intensivierung der Kooperation auf  wurde eine Veranstaltung von eintägigen Kontaktarbeitskreisen („Lehrer und Sozialarbeiter lernen einander kennen“) durchgeführt, die folgenden Themen gewidmet waren:

 

 

2.4. Vorschläge, Positionen, Ideen

 

In den Diskussionen wurden auch institutionelle Lösungen immer wieder angesprochen. Dazu wird im April und September 1984 ausgeführt: Eine Heimeinweisung als Probiermaßnahme sei abzulehnen. Heimeinweisungen sollten nur dann durchgeführt werden, wenn die Indikation ausreichend geprüft wurde, da ansonsten mit Entweichungen und Abbrüchen zu rechnen sei. ... Es besteht die Gefahr bestehende Einrichtungen als „kostengünstigere“ Lösung anzufüllen; dennoch sollte die Frage der vorübergehenden geschlossenen Unterbringung weiter diskutiert werden (Protokoll 12.1.84). Die Tradition der heiminternen Schule müsse überdacht werden, da viele Heimkinder bei entsprechender pädagogischer  Betreuung die öffentliche Schule besuchen könnten (Protokoll 14.1.91).

 

Das wesentliche Ziel sei, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, damit das Kind aus der Illegalität herauskommt. In diesem Sinne sollten die Maßnahmen darauf zielen, dass auch jene SchülerInnen, die nicht in eine Gruppe integrierbar sind, einen Schulabschluss erhalten.

 

2.5. Weiter Entwicklungen:

 

Die Kommission entwickelte sich in der Folgezeit zu einer Plattform der Diskussion von Entwicklungen im psychosozialen Feld für Kinder und Jugendliche – die Integration behinderter Kinder wurde in die laufende Themenliste aufgenommen, die Polizeidirektion Wien wurde zur Mitarbeit eingeladen - und änderte dementsprechend (Protokoll 20.1.1992) ihren Namen  auf „Psychosoziale Kommission“.

 

Das Jugendamt entwickelte Modelle zur Veränderung der Heimbetreuung, die Keimzellen des Konzepts „Heim 2000“, das zur Auflösung der traditionellen Heime führte:

 

 

Im neuen Wiener Landesgesetz zur Jugendwohlfahrt, das mit 1.7.1990 in Kraft trat, wurde die Zusammenarbeit mit der Schule legistisch verankert und die Kinder- und Jugendanwaltschaft wurde geschaffen.

 

Die Integration behinderter Kinder in der Regelschule, die – bereits lange vor der entsprechenden Novelle des SchOG 93 - in Wien als Schulversuch erprobt wurde (Protokoll 24.9.90), wurde zum regelmäßigen Thema der Kommission. Die Entwicklung der „basalen Förderklassen“ war die Antwort auf das Problem der „Schulunfähigkeitserklärung“ schwerbehinderter Kinder.

 

Die Kommission setzte sich mit der Medienkampagne über Gewalt in der Schule und mit der Propagierung von Ausländerfeindlichkeit auseinander (Protokoll 11.5.92).

 

Die Antworten der Schule auf Verhaltensauffälligkeiten von Kindern hatten sich deutlich verändert: 2200 Kinder waren dieser Gruppe zuzurechnen - davon waren nur 16% nicht-deutscher Muttersprache - (Protokoll 11.5.92); Beratungslehrer und Psychagogen betreuten 2,4%, die Sondererziehungsschulen 0,4% ; die Intention des Stadtschulrates geht weiterhin in Richtung der Verstärkung der integrativen Betreuung (Protokoll 3.5.93).

 

3.      ENQUETEN UND KOMMISSIONEN

 

Enqueten zu sozialpolitischen Themenkreisen haben die Funktion, strategische Zielvorgaben zu formulieren, politische Willenserklärungen und konsensuelle Sichtweisen zu dokumentieren. Die Funktion von Kommissionen ist es, Entwicklungen zu begleiten und durch Formulierung neuer Teilziele in Gang zu halten.

 

Das Jugendamt der Stadt Wien hatte in den 1970-er und 80-er Jahren unter der Leitung von Walter Prohaska und unter der politischen Verantwortung der Stadträtin Gerti Fröhlich-Sandner das Instrument der Enqueten gewählt, um Veränderungen in der Jugendfürsorge in Gang zu bringen. Die meisten dieser Enqueten wurden – meist nach mehrmonatigen Diskussionsphasen in Fachgremien - in Kooperation mit der Universitätspsychiatrie (Walter Spiel, Hans Strotzka), die die wissenschaftlichen Grundlagen lieferte, durchgeführt. Auf diese Weise wurde unter anderem die Reform der Sozialpädagogik (Heimreform) und die Neugestaltung der Sozialarbeit (familienorientierte Sozialarbeit) in Gang gebracht.

 

Die „Schulverweigerer-Enquete“ unterschied sich von diesen Enqueten insofern, als die Kooperation mit einer weiteren Institution, mit der Schulbehörde, begonnen wurde, um gemeinsame Entwicklungen voranzutreiben. Die Richtung dieser Entwicklungen – das zeigt die zusammenfassende Darstellung – war klar und wurde von allen beteiligten Institutionen mitgetragen: Integration von Randgruppen durch Veränderung von Strukturen und Einstellungen:

 

 

4.      SOZIALPOLITIK STATT NEW PUBLIC MANAGEMENT

 

Aus der Perspektive des Jahres 2003 erscheint vor allem der Weg, der damals beschritten wurde, interessant: Das Problem der Schulverweigerung, das in der Alltagsarbeit des Jugendamtes aufgefallen war, wurde einer quantitativen Analyse unterworfen, auf die ein komplexer Lösungsansatz folgte. Anstatt Administration  wurde Politik gemacht. Eine Verwaltungseinheit – das Jugendamt – ging auf andere Institutionen zu. Das Problem wurde nicht zwischen den Institutionen hin- und hergeschoben, es wurde nicht versucht, Sektoren der Zuständigkeit abzugrenzen und partikulare Lösungen zu finden. Es wurde nicht versucht „amtsinterne“, rasche und kostengünstige Lösungen anzustreben. Nein – der Weg war ein ganz anderer.

 

Das Problem wurde in seiner gesellschaftlichen Vielschichtigkeit betrachtet, die handelnden Institutionen wurden langfristig um dieses Problem geschart und gemeinsam wurden komplexe Lösungen entwickelt, die weit über den Ausgangspunkt hinauswiesen. Die Lösungen – meist als Modellprojekte geplant und erprobt -  waren an grundsätzlichen und übergreifenden Zielen (Integration sozialer Randschichten) orientiert und lieferten damit zahlreiche Anstöße zu grundsätzlichen Reformen.

 

Die Eckpunkte des eingeleiteten Prozesses waren:

 

 

 

Mittlerweile sind 20 Jahre vergangen. Die Kommission existiert immer noch. Sie hat ihre veränderungsorientierte Dynamik verloren – wie sollte dies unter den aktuellen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auch anders sein. Sie ist aber eine Plattform der Kooperation geblieben und erfüllt eine wichtige Funktion: Das Monitoring im psychosozialen Feld für Kinder und Jugendliche.

 

 



[1] Der vorliegende Text beruht auf der Auswertung der Kommissionsprotokolle (3. Nov. 1982 – 2. Mai 1994) sowie den persönlichen Erinnerungen des Autors als Kommissionsmitglied