Skip to main content English

Netzhautuntersuchung bei Diabetes: Der Roboter stellt die Diagnose

Advanced Retinal Therapy-Kongress „ART 2019“ am 23.11. in Wien
Alle News
Bild: MedUni Wien/Kovic
v.l.n.r.: Andreas Pollreisz, Klinikleiterin Ursula Schmidt-Erfurth und Bianca Gerendas von der Universitätsklinik für Augenheilkunde und Optometrie der Medizinischen Universität Wien und des AKH Wien

(Wien, 19-11-2019) Die vor rund zwei Jahren angekündigte digitale Revolution in der Augenheilkunde ist jetzt klinische Realität geworden: Seit Mitte des Jahres ist es an der MedUni Wien bzw. im AKH Wien möglich, mit einem automatischen, digitalen Netzhautscreening und ohne Hilfe von AugenärztInnen eine diabetische Netzhaut-Erkrankung zu erkennen. „Der Roboter macht den Befund ganz alleine“, sagte Ursula Schmidt-Erfurth, Leiterin der Universitätsklinik für Augenheilkunde und Optometrie der Medizinischen Universität Wien und des AKH Wien am heutigen Dienstag bei einer Pressekonferenz anlässlich des Advanced Retinal Therapy-Kongresses „ART 2019“ am 23.11. in Wien, bei dem es insbesondere um den Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) in der Augenheilkunde geht. 

„Weltweit gibt es 420 Millionen Menschen, die an Diabetes leiden, aber nur rund 15 Prozent gehen so rechtzeitig zum Augenarzt, dass bleibende Schäden mit schwerem Sehverlust vermieden werden können“, erläuterte Schmidt-Erfurth. „Netzhautschädigungen sind weltweit die häufigste Ursache für irreversible Sehbehinderungen bei Menschen im erwerbstätigen Alter. 75% Prozent aller Diabetikerinnen und Diabetiker erleiden langfristig einen derartigen Schaden.“

Nun gibt es eine Künstliche-Intelligenz-Lösung, die kostengünstig und effizient dafür sorgt, dass diese Früherkennung bereits in der allgemeinen medizinischen Routine stattfindet: Eine Roboter-Kamera, die nicht größer als eine Kaffeemaschine ist und rund 20.000 Euro kostet, ist unter der Leitung der Universitätsklinik für Augenheilkunde und Optometrie in drei diabetologischen Abteilungen (an der MedUni Wien bzw. im AKH Wien, in der Rudolfstiftung und im Kaiser-Franz-Josef-Spital) im Einsatz und diagnostiziert binnen weniger Minuten, ob bei DiabetikerInnen bereits eine Schädigung der Netzhaut vorliegt, die behandelt werden muss. „Dazu ist keine Ärztin bzw. kein Arzt nötig. Die Patientinnen und Patienten setzen sich vor die Kamera und fünf Minuten später kommt der Befund aus dem Drucker“, sagte Schmidt-Erfurth, die auch das Christian Doppler Labor für künstliche Intelligenz am Auge leitet. „Der Roboter gibt ganz eindeutig an, ob aktuell keine Schädigung, eine moderate oder eine, die unbedingt behandelt werden muss, vorliegt und bahnt den direkten Weg zum Augenarzt.“


Bild: MedUni Wien/Kovic
Klinikleiterin Ursula Schmidt-Erfurth und Kostiantyn Lupyr von der Universitätsklinik für Augenheilkunde und Optometrie mit einer Patientin

Alle drei in Wien im Einsatz befindlichen Geräte sind Teil der Kooperation der Universitätsklinik für Augenheilkunde und Optometrie mit ihren internationalen KI-Partnern. Das dabei eingesetzte IDx-DR-System wurde an der Universität von Iowa in den USA im Rahmen eines Spin-off-Unternehmens entwickelt und ist das einzige weltweit zugelassene und daher sichere Komplettsystem.

„Mit zwei Millionen Pixel bzw. Datenpunkten wird ein extrem scharfes Bild der Netzhaut aufgenommen und die Daten digital abgeglichen“, erklärte Andreas Pollreisz, Netzhaut-Experte der MedUni Wien bzw. des AKH Wien. Anhand dieses Fundusfotos werden anatomisch relevante Strukturen wie Makula, Sehnerv oder Blutgefäße von einem Algorithmus identifiziert und die gesamte Bildaufnahme auf pathologische diabetesbedingte Veränderungen untersucht. Charakteristische Diabetesmerkmale sind Mikroaneurysmen, d.h. winzige Aussackungen an feinen Blutgefäßen, Blutungen innerhalb der Netzhautschichten, harte Exsudate, d.h. Ablagerung von Fettstoffen in der Netzhaut, oder Gefäßneubildungen auf der Netzhaut, was Zeichen für ein bereits weit fortgeschrittenes Stadium der diabetischen Retinopathie darstellt.

Das IDx-DR-System ermittelt innerhalb von Minuten automatisch die Bildqualität, sowie das Vorhandensein einer diabetischen Netzhautveränderung. Bei rund fünf Prozent der PatientInnen werden bereits deutliche Schädigungen nachgewiesen, obwohl die PatientInnen noch keine Symptome haben. Bei moderaten Befunden (ca. 15 % der symptomlosen DiabetikerInnen) ist eine weitere, ständige Beobachtung nötig – die ebenfalls vom Roboter erkannt wird.

Mit freiem Auge nicht mehr erkennbar
Internationale Studien haben gezeigt, dass die Künstliche Intelligenz in der Diagnostik mit ihren exakten Algorithmen genauer und schneller ist als die Fachfrau bzw. der Fachmann. Schmidt-Erfurth: „Das, was hier analysiert wird, kann der Experte mit freiem Auge nicht mehr erkennen.“ Am Ende der diagnostischen Kette steht dennoch die Ärztin bzw. der Arzt: Nur diese können anhand des Bildes einschätzen, welche Behandlungsschritt folglich nötig ist und gegebenenfalls die Operation durchführen – ganz individuell im Sinn der Präzisionsmedizin. Zugleich werden aber alle positiven Befunde und auch jene, wo es kein Ergebnis gab – etwa wegen eines vorgelagerten Grauen Stars – im Vienna Reading Center der MedUni Wien wissenschaftlich kontrolliert.

„Der Roboter entscheidet sich im Zweifelsfall eher zu einem falsch positiven Ergebnis, damit geht der Patient zum Augenarzt und erhält in jedem Fall eine sichere Diagnostik. Bei der Anwendung von IDx-DR bei den ersten 450 Patienten konnten wir nur einen einzigen Fall identifizieren, wo ein Arzt eine genauere Diagnostik vorgeschlagen hätte als der Computer. Bei den anderen 449 Patienten war IDx-DR korrekt oder übergenau,“ erklärte Bianca Gerendas. „Diese neue Technik entlastet nicht nur in den ersten Schritten die Ärztinnen und Ärzte – sie stellt insbesondere sicher, dass nicht mehr Tausende von Diabetikerinnen und Diabetiker unbehandelt bleiben“, betonte Schmidt-Erfurth. „Denn das Wichtigste bei einer Netzhautschädigung ist die Früherkennung.“

IDx-DR ist eines der ersten Beispiele für funktionierende künstliche Intelligenz, die ÄrztInnen im Arbeitsalltag unterstützen kann. Dennoch birgt jeder Einsatz von KI auch Risiken. Ein Computer kann nur das diagnostizieren, das man ihm beigebracht hat: Wurde er zur Diagnose von diabetischer Retinopathie trainiert, dann wird er eine Netzhautablösung oder eine altersbedingte Makula-Degeneration nicht erkennen. „Aus diesem Grund ist es wichtig, solche Geräte nur streng in ihrem Zulassungsbereich einzusetzen, genau wie man es auch bei Medikamenten macht.“ Klinikleiterin Schmidt-Erfurth warnte gleichzeitig vor unseriösen Screening-Angeboten im Internet oder als Apps. „Das IDx-DR-System ist das weltweit einzige, das zugelassen und durch große Studien abgesichert ist. Nur mit solchen Komplettsystemen gibt es eine diagnostische Sicherheit.“


Fachkongress ART (Advanced Retinal Therapy):
ART Vienna 2019, Sa., 23. 11., Van Swieten Saal/MedUni Wien, Van Swieten-Gasse 1 a, 1090 Wien: www.artvienna.eu. Der Schwerpunkt des Fachkongresses liegt auf Innovationen und neuen Entwicklungen bei der Therapie von Netzhauterkrankungen und dem Einsatz von Big Data und künstlicher Intelligenz. Rund 190 Millionen Menschen weltweit leiden an der altersbedingten Makula-Degeneration, rund 170 Millionen haben eine diabetische Netzhauterkrankung, Dunkelziffer und Tendenz steigend.