(Wien, 20-08-2021) Wie sollte Europa zukünftig mit der COVID-19-Pandemie umgehen? Welche Strategien sollte es verfolgen und welche spezifischen Risiken in Betracht ziehen? Um diese Fragen zu beantworten, haben europäische ForscherInnen aus verschiedensten Fachbereichen – darunter auch die MedUni Wien-Epidemiologin Eva Schernhammer – gemeinsam ausführliche Situationsanalyse für die kommenden Monate und Jahre erstellt. Die Ergebnisse sind vor kurzem in den renommierten Fachzeitschriften The Lancet und The Lancet Regional Health - Europe erschienen.
Nach einem deutlichen Rückgang der COVID-19-Inzidenz im Frühjahr in ganz Europa, haben viele Länder ihre Eindämmungs-Maßnahmen gelockert oder sogar ganz aufgehoben. In Kombination mit der Ausbreitung der neuen Delta-Variante führte dies jedoch zu einem erneuten Anstieg der Inzidenz: Neueste Forschungsdaten deuten darauf hin, dass diese Variante deutlich infektiöser ist als die vorherigen. Zudem können auch bereits geimpfte Personen das Virus mit gewisser Wahrscheinlichkeit weitergeben, auch wenn die Impfung selbst sehr effektiv gegen einen schweren Verlauf der Infektion schützt. Vermehrte Reisetätigkeit, die geplante Öffnung der Schulen nach den Sommerferien sowie eine erhöhte Übertragung des Virus in der bevorstehenden nasskalten Jahreszeit betonen die Notwendigkeit einer länderübergreifenden Strategie.
Zwei gegensätzliche Strategien
Die Expertengruppe analysierte zwei gegensätzliche Strategien: Eine rasche Aufhebung der Beschränkungen in der Annahme, dass eine mögliche hohe Inzidenz dank Immunisierung nicht zur Überlastung der Gesundheitssysteme führt; oder ei-ne schrittweise Aufhebung der Beschränkungen im Tempo des Impffortschritts mit dem Ziel niedriger Inzidenzen.
Angesichts des Impfstandes im August 2021 kann die erste Strategie zu einer Inzidenz von mehreren hundert Infektionen pro 100.000 Menschen und Woche führen. Die zweite Strategie basiert auf Kontaktnachverfolgung und erfordert daher eine Inzidenz von deutlich unter hundert. Eine solche Diskrepanz stellt die europäische Zusammenarbeit vor Schwierigkeiten. Denn eine hohe Inzidenz in einem Land kann sich auf die Nachbarn ausweiten. Beide Wege sind nur dann effektiv, wenn die europäischen Länder sich auf eine gemeinsame Strategie einigen.
Die Vorteile einer niedrigen Inzidenz sind lange bekannt. Dazu gehören weniger Mortalität, Morbidität oder Long-COVID und die Solidarität mit den noch nicht geschützten Personen. Das Risiko zur Entwicklung und Verbreitung neuer Varianten muss niedrig gehalten werden - mit effektiver Testung und Kontaktnachverfolgung. Weniger Personal in Quarantäne und Isolation sowie niedrige Inzidenzen seien die beste Garantie, damit Schulen und Kindertagesstätten während der kommenden Herbst-Winter-Saison geöffnet bleiben können. Hohe Inzidenzen würden Krankenhäuser und Intensivstationen in einigen Ländern immer noch an die Grenzen bringen.
Ende der Pandemie ist vorstellbar
Fazit der Studie: Eine niedrige Inzidenz hilft bei der Eindämmung der Pandemie und wahrt damit die Freiheit aller, einschließlich der gefährdeten Personen. Das wahrgenommene Risiko, die Motivation und das Wissen über den Zweck der Maßnahmen sind wichtige Voraussetzungen dafür, dass Menschen diese einhalten und sich schützen. Das Vertrauen der Öffentlichkeit muss daher durch rechtzeitige, klare, konsequente und zuverlässige Kommunikation weiter gefördert werden, einschließlich einer systematischen Bekämpfung von Falschinformationen.
Die Pandemie ist zwar noch nicht überwunden, aber ihr Ende ist vorstellbar, heißt es in der Studie: „Die Eindämmungsmaßnahmen können aufgehoben werden, sobald eine hohe Durchimpfungsrate erreicht ist und die Impfstoffe auch weiterhin hochwirksam gegen neue Varianten sind. Bis dahin sollte es jedoch das Ziel ein gemeinsames europäisches Vorgehen sein, um die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten für Europa und die Welt so gering wie möglich zu halten.”
Service: The Lancet
“Towards a European strategy to address the COVID-19 pandemic”. Viola Priesemann, Rudi Balling, Simon Bauer, Philippe Beutels, André Calero Valdez. Sarah Cuschieri, Eva Schernhammer et al. https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(21)01808-0/fulltext