(Wien, 10-08-2022) Die Einschätzung über den Schweregrad von Multipler Sklerose (MS) ist wesentlich für die Wahl der adäquaten Therapiemaßnahmen, kann mit den aktuell zur Verfügung stehenden Methoden aber nicht verlässlich getroffen werden. Eine Studie der MedUni Wien zeigt nun erstmals, dass die Netzhaut des Auges als Prognosemarker herangezogen werden kann: Die Analysen ergaben, dass der Verlust an Netzhautschichtdicke in Folge eines MS-Schubes die Schwere von künftigen Schüben und damit die Wahrscheinlichkeit einer Behinderung vorhersagt. Die Ergebnisse der Untersuchung wurden jetzt im Fachjournal Neurology publiziert.
Im Rahmen der Studie untersuchten die Forscher:innen um Gabriel Bsteh und Thomas Berger von der Universitätsklinik für Neurologie von MedUni Wien und AKH Wien in Kooperation mit der Universitätsklinik für Augenheilkunde und Optometrie von MedUni Wien und AKH Wien 167 MS-Patient:innen über einen Zeitraum von mehr als drei Jahren. Dabei gingen sie von der Hypothese aus, dass schubbedingte Schäden an der Netzhaut des Auges das Ausmaß der Schäden im Gehirn widerspiegeln. Wie die wissenschaftlichen Analysen bestätigten, bedeutet etwa der Verlust von 5 µm (Mikrometer) Netzhautschichtdicke nach einer Sehnerventzündung eine Verdopplung des Risikos für eine bleibende Behinderung nach dem nächsten Schub. Diese Voraussagen könnten künftig als Basis für Therapieentscheidungen herangezogen werden: Die Studienergebnisse weisen darauf hin, dass bei hohem Verlust an Netzhautschichtdicke intensivere Therapiemaßnahmen indiziert sind als bei geringeren Abnahmen. Das gilt auch dann, wenn die Patient:innen zum Zeitpunkt der Messung noch keine oder nur leichte Behinderungen haben.
Prognoseverfahren ist bereits verfügbar
Die Netzhautschichtdicke wurde von den Forscher:innen mittels optischer Kohärenztomographie (OCT) gemessen. Das ist eine bildgebende Methode, bei der mit Infrarotlicht hochauflösende dreidimensionale Bilder von sehr dünnen Gewebeschichten im Mikrometerbereich (1 Mikrometer=1 Tausendstel Millimeter) erstellt werden können. OCT wird u. a. bei Augenerkrankungen wie dem Glaukom bereits als Instrument zur Diagnose und Verlaufsbeurteilung eingesetzt. „Somit steht uns das Verfahren zur Verlaufsprognose von MS bereits jetzt zur Verfügung“, betont Gabriel Bsteh, Erstautor der Studie, und ergänzt: „Wie wir im Zuge unserer klinischen Studie festgestellt haben, sollten die Messungen bei Erstdiagnose, unmittelbar zum Zeitpunkt der MS-Schub-Sehnerventzündung und sechs Monate danach durchgeführt werden.“
Netzhaut als Fenster zum Gehirn
Multiple Sklerose ist eine autoimmune, chronisch entzündliche Erkrankung, die im gesamten Nervensystem zum Verlust von Nervenzellen führt. Obwohl diese Schäden für Patient:innen zunächst oft noch nicht spürbar sind, bestimmt ihr Ausmaß die Prognose für die Schwere der Erkrankung. Da Vorhersagen über den Krankheitsverlauf bei MS wichtig für die Wahl der adäquaten Therapiemaßnahmen sind, ist die medizinische Forschung schon länger auf der Suche nach verlässlichen Prognosetools. „Mit der Netzhautschichtdicke haben wir einen neuen Biomarker identifiziert, der gleichsam ein Fenster zum Gehirn darstellt“, fasst Gabriel Bsteh die Essenz der Studie zusammen. Sollten sich die Ergebnisse in größer angelegten Folgestudien bestätigen, könnte das Verfahren auch in der klinischen Routine angewandt werden.
Publikation: Neurology
Retinal layer thinning after optic neuritis as a predictor of future relapse remission in relapsing multiple sclerosis
Gabriel Bsteh, Nik Krajnc, Katharina Riedl, Patrick Altmann, Barbara Kornek, Fritz Leutmezer, Stefan Macher, Christoph Mitsch, Philip Pruckner, Paulus Rommer, Gudrun Zulehner, Berthold Pemp, Thomas Berger
Doi: 10.1212/WNL.0000000000200970