(Wien, 27-10-2023) Mit 17 Millionen gemeldeten Fällen von sexuell übertragbaren Infektionserkrankungen wurde 2019 ein historischer Höchststand in der europäischen Region der Weltgesundheitsorganisation WHO verzeichnet. Vor diesem Hintergrund erarbeiteten internationale Expert:innen, darunter Georg Stary und Katja Knapp von der MedUni Wien, einen umfassenden Überblick über die Situation und die Herausforderungen für die öffentliche Gesundheit. Die Artikelserie wird aktuell im renommierten Fachjournal „The Lancet Regional Health – Europe“ publiziert.
Sexuell übertragbare Infektionserkrankungen (STIs = Sexually Transmitted Infections) so weit zurückzudrängen, dass die Gefahr für die Weltbevölkerung gebannt ist, gehört zu den Zielen der Vereinten Nationen in der „Agenda 2030“. Um dieses Vorhaben zumindest in der europäischen WHO-Region nach der Covid-19-Pandemie wieder ins Blickfeld zu rücken, nahmen sich Wissenschafter:innen des Themas in vier aktuell veröffentlichten Untersuchungen an. Analysiert wurden dabei u. a. die Epidemiologie in Europa, laufende Präventionsstrategien in verschiedenen Ländern sowie der Zugang Betroffener zu modernen Behandlungsmethoden.
Aktuelle Daten veranschaulichen den dringenden Handlungsbedarf: So stieg z. B. in den Jahren zwischen 2010 und 2019 die Zahl der Syphilis-Fälle bei den 15- bis 49-Jährigen in Europa um 87 Prozent an. Im selben Zeitraum wurden fast doppelt so viele HIV-Diagnosen neu gestellt wie in den Jahrzehnten davor, sodass derzeit rund 1,5 Millionen Betroffene vermeldet werden. Alarmierend auch der europaweite Anstieg an Chlamydien und Gonorrhoe („Tripper“) sowie das Auftreten von Infektionen, die zuvor nicht mit primär sexueller Übertragung in Verbindung gebracht wurden (z. B. Hepatitis B oder Shigellose). Österreich liegt ebenfalls in diesem bedenklichen Trend und fällt besonders durch Höchstwerte bei Gonorrhoe und Chlamydien-Infektionen auf, so Georg Stary und Katja Knapp von der Universitätsklinik für Dermatologie der MedUni Wien, die an der Artikelserie mitgewirkt haben.
Zunahme an Hochrisikoverhalten bei sexuellen Kontakten
Als Ursachen für diese Entwicklung sehen die Wissenschafter:innen eine Zunahme an Hochrisikoverhalten bei sexuellen Kontakten, die insbesondere ungeschützten Geschlechsverkehr mit wechselnden Partner:innen umfassen. Das wird unter anderem durch die sehr effiziente präventive Strategie der HIV-Pre-Exposure-Prophylaxe unterstützt, mit der zwar Ansteckungen mit HIV vermieden, aber durch den Verzicht auf Kondome die zunehmende Verbreitung anderer STIs verursacht werden können.
So alarmierend die Zahlen sind, so begrenzt ist aufgrund länderspezifischer Bedingungen deren Aussagekraft. Entsprechend zählt das Vereinheitlichen etwa von Überwachungs- und Meldesystemen bei STIs in den einzelnen europäischen WHO-Mitgliedsstaaten zu den Forderungen der Expert:innen. So können gesicherte Daten über die Größe und Zusammensetzung von Zielgruppen insbesondere für Präventionsmaßnahmen gewonnen werden. Dazu gehört vor allem auch, das Bewusstsein für die enorme Bedeutung von Kondomen als Schutz vor STI aufrechtzuerhalten. „Insbesondere in Österreich fehlen oftmals aussagekräftige Daten über das Vorkommen der häufigsten STIs“, kritisiert Georg Stary. „Dringend benötigt werden auch Resistenzprofile bei bakteriellen STIs, um im Bedarfsfall rasch und zielgerichtet Antibiotika verabreichen zu können.“
Publikationen: Sexually Transmitted Infections 1-4, The Lancet Regional Health – Europe
Treatment of bacterial sexually transmitted infections in Europe: gonorrhoea, Mycoplasma genitalium, and syphilis
Oriol Mitjà, Clara Suñer, Lorenzo Giacani, Martí Vall-Mayans, George-Sorin Tiplica, Jonathan D. C. Ross and Catriona S. Bradshawh
https://doi.org/10.1016/j.lanepe.2023.100737
Prevention strategies for sexually transmitted infections, HIV,and viral hepatitis in Europe
Deniz Gökengin, Teymur Noori, Andrea Alemany, Carlo Bienkowski, Geoffroy Liegon, Ahmet Çagkan Inkaya, Jorge Carillo, Georg Stary, Katja Knapp, Oriol Mitja and Jean-Michel Molinal
https://doi.org/10.1016/j.lanepe.2023.100738
Epidemiology and determinants of reemerging bacterial sexually transmitted infections (STIs) and emerging STIs in Europe
Oriol Mitjà, Valeska Padovese, Cinta Folch, Isotta Rossoni, Michael Marks, Miquel Angel Rodríguez i Arias, Amalio Telenti, Angela Ciuffi, Karel Blondeel, Otilia Mårdh and Jordi Casabonae
https://doi.org/10.1016/j.lanepe.2023.100742
Managing bacterial sexually transmitted infections (STIs) and preventing HIV/STIs in Europe
Cécile Bébéar, Sabine Pereyre, Béatrice Berçot and Charles Cazanaveb
https://doi.org/10.1016/j.lanepe.2023.100760