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Der "Anschluss": zum Gedenken dessen 75. Wiederkehr

Kommentar von MedUni Wien-Rektor Wolfgang Schütz.

Bereits die Tage vor dem 13. März 1938 – dem Vollzugsdatum des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich – begann die Vertreibung der Juden und der Andersdenkenden aus ihrem beruflichen und in der Regel auch privaten Umfeld, wobei Wissenschaftler zu den ersten Opfern gehörten. So wurde der Pharmakologe Otto Loewi, Medizin-Nobelpreisträger 1936, bereits am 11. März in Graz verhaftet. Mit dem Anschluss und der damit verbundenen Vertreibung der Hochschullehrer aus der Medizinischen Fakultät der Universität Wien fand auch die von Carl von Rokitansky gegründete 2. Wiener Medizinische Schule, die vier Nobelpreisträger hervorgebracht hat, ihr jähes Ende. Denn die damalige Fakultät war von allen universitären Einrichtungen am stärksten betroffen. Sie verlor 52 Prozent ihres Lehrkörpers, dessen sie sowohl 60 Jahre als auch 70 Jahre später (hier schon als eigene Universität) in Form von Publikationen, Veranstaltungen und zwei Mahnmalen gedachte. Eines ist an prominenter Stelle in den Arkaden der Universität positioniert, das andere im Hof vor dem jetzigen Rektorat:

            13. März 1998                               13. März 2008

Meine Rede zum 60 jährigen Gedenken im damals übervollen Hörsaal 1 finden Sie hier

Ebenso wenig wie das 1945 wieder erstandene Österreich aber Anstalten machte, die vertriebene Intellegenz zurückzuholen, hatten die wissenschaftlichen Institutionen des Landes auch 50 Jahre nach dem Anschluss ihrer gedacht, weder die damals noch unter Bundeshoheit stehenden Universitäten noch die traditionsreiche Österreichische Akademie der Wissenschaften, die bereits eine Woche nach dem Anschluss dem Führer "unverbrüchliche Treue und unbedingten Gehorsam" gelobt hatte (sie präsentiert dieser Tage die Ergebnisse eines Forschungsprojekts "Die ÖAW 1938 bis 1945"). Aber auch in den im März 1988 getätigten Gedenkveranstaltungen des offiziellen Österreichs wurde die Rolle dieses Landes als erstes Opfer Hitlers weiterhin stilisiert und die Täterrolle beharrlich ausgespart. Erst 1991 hat der damalige Bundeskanzler Franz Vranitzky in einer Rede im Parlament und danach in der Universität Jerusalem diesen unerträglichen Bann gebrochen.

Man weiß es auch von anderen bizarren bis grausamen Dikaturen der jüngsten Zeitgeschichte (DDR, Kambodscha), dass noch bis zu einer Generation danach Scheu und Unbehagen herrscht, darüber zu sprechen. Die Nazi-Diktatur war aber eine derart unvorstellbar grausame (noch ver-stärkt weil ein hoch zivilisiertes Land von ihr erfasst wurde), dass es offenbar zweier Generationen und mehr bedurfte, bis sich die ersten öffentlich getrauten, die Wahrheit zu sagen. Denn es schien auch den Kindern derer, welche in der Nazi-Diktatur verwurzelt waren, noch schwer zu fallen, zuzugeben, dass ihre Eltern ein falsches Ideal verherrlicht hatten.

Aber wir sind noch lange nicht über den Berg. Es gibt weiterhin Unbelehrbare, die heute deshalb schwer zu greifen sind, da sie ihre verhohlenen – und immer öfter unverhohlenen – Botschaften geschickt auszustoßen verstehen: ist die Botschaft verhohlen, werden Kritiker, die sie richtig deuten, bezichtigt, etwas herausgehört zu haben, was so nie gesagt wurde; ist die Botschaft unverhohlen, werden Kritiker bezichtigt, alles missverstanden zu haben. Es wird diesen Unbelehrbaren auch dadurch leicht gemacht, dass das Wissen über die dunkelsten Jahre unserer Geschichte (über die "Nacht über Österreich", wie die derzeitige, außerst empfehlenswerte Ausstellung in der Nationalbibliothek betitelt ist) von Generation zu Generation zu schwinden scheint. Aber nur, wenn es gelingt, dieses Wissen in unseren Köpfen und in denen unserer Nachkommen zu behalten, werden wir über den Berg kommen. "Einmal muss Schluss sein" gilt nicht.

Wolfgang Schütz