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Von 8-Jährigen, die wie 80 aussehen

Der 17-jährige Nihal aus Indien und die 4-jährigen Zoey aus den Vereinigten Staaten. Beide leiden an Progerie.
Progerie lässt Kinder zehnmal schneller altern. Jetzt wurde ein dafür verantwortlicher Mechanismus aufgeklärt.

(Wien, 05-10-2015) Progerie ist der Fachbegriff für eine Erkrankung, die Kinder zehnmal schneller altern lässt. Durchschnittlich sterben sie bereits im Alter von 14 bis 15 Jahren – häufig an Herzinfarkten und Schlaganfällen. Bisher gibt es keine Heilung für die Krankheit, auch die genauen Ursachen des beschleunigten Alterungsprozesses sind unbekannt. Diese aufzuklären haben sich Roland Foisner und sein Team an den Max F. Perutz Laboratories der Universität Wien und der Medizinischen Universität Wien zur Aufgabe gemacht. In ihrer neuesten Studie im Fachjournal Genes & Development beschreiben die WissenschafterInnen nun einen bisher unbekannten Mechanismus hinter den Symptomen der Progerie und liefern damit neue Ansätze für die Therapie der Krankheit.

Kleine Kinder gefangen in einem alten Körper – so könnte man Progerie beschreiben. Bei der Geburt ist von der vorzeitigen Alterungskrankheit noch nichts zu bemerken. Erst im Alter von ein bis zwei Jahren beginnen die Betroffenen plötzlich vorschnell zu altern. Weltweit sind rund 200 Fälle bekannt, allein in Indien sind es geschätzt zirka 80 Betroffene.

Im Jugendalter leiden sie dann bereits an typischen Alterserscheinungen wie brüchigen Knochen, steifen Gelenken und schweren Herzkreislauferkrankungen. Die meisten PatientInnen sterben noch bevor sie ihre Zwanziger erreichen an einem Schlaganfall oder Herzinfarkt. Eine medikamentöse Behandlung mit sogenannten FTIs (Farnesyltransferase-Inhibitoren) ist möglich. Diese Arzneimittel, ursprünglich für die Krebstherapie entwickelt, verbessern einige Aspekte der Krankheit wie Knochenstruktur und Arteriensteife und verlängern die Lebenserwartung um mindestens 1,6 Jahre, Heilung bringen sie aber keine.

Progerin: das Protein hinter der Alterungserkrankung Progerie

Ein Großteil der Symptome der Progerie wird von einem Protein namens Progerin verursacht, das in extrem hohen Konzentrationen in Zellen von PatientInnen vorliegt. Progerin ist eine fehlerhafte Version von Lamin A, welches normalerweise den Zellkern stabilisiert und an wesentlichen Kernfunktionen beteiligt ist. Wie Progerin seine Wirkung genau entfaltet untersuchen Roland Foisner und sein Team an den Max F. Perutz Laboratories – einem Joint Venture der Universität Wien und der Medizinischen Universität Wien. Sie erforschen die molekularen Funktionen von Kern-Laminen und deren fehlerhaften Formen wie Progerin sowie die damit verbundenen Krankheiten.

„Vor einigen Jahren fanden wir und andere Forschungsgruppen, dass in Progerie-Zellen wesentlich weniger LAP2α vorkommt als in normalen Zellen. LAP2α steht im Wechselspiel mit Lamin A um die Zellproliferation, also die Zellvermehrung, zu regulieren. Interessanterweise verringert sich die Menge an LAP2α in unseren Zellen wenn wir älter werden“, erklärt Roland Foisner, stellvertretender Direktor des Departments für Medizinische Biochemie der Medizinischen Universität Wien. Unterstützt durch einem Innovationspreis der Progeria Research Foundation entwickelten Postdoktorand Thomas Dechat und Doktorandin Sandra Vidak zusammen mit Tom Misteli vom NIH National Cancer Institute (USA) eigens eine neue Zelllinie mit der sich Progerie im Labor nachstellen lässt. Gerüstet mit diesem Werkzeug machten sich die Wiener WissenschafterInnen an die Untersuchung der molekularen Ursachen der Progerie. Vidak sagt: „Im Vergleich zu normalen Zellen waren die Mengen an LAP2α in den Progerie-Zellen viel niedriger. Gaben wir ihnen aber LAP2α, konnten sich die Zellen wieder normal vermehren. Das gleiche passierte auch in Zellen aus Patientenproben.“

Unerwartetes Zusammenspiel von LAP2α und Progerin
Die weiteren Experimente hielten eine echte Überraschung bereit: LAP2α wirkt über völlig unterschiedliche Mechanismen vergleicht man Progerie- und normale Zellen. In letzteren gibt es einen frei im Zellkern vorliegenden Lamin A Pool an den LAP2α binden kann. Dies verlangsamt die Proliferation, während zu niedrige LAP2α Mengen zu überhöhter Zellvermehrung führen. Bei Progerie tritt hingegen genau das Gegenteil ein: bei wenig LAP2α vermehren sich die Zellen viel langsamer und treten zu früh in den zellulären Alterungsprozess ein. Ursache hierfür ist der fehlende freie Lamin A Pool im Zellkern. LAP2α schien also in Progerie-Zellen über einen ganz anderen Mechanismus zu funktionieren. Ergebnisse früherer Studien hielten letztlich des Rätsels Lösung parat: „Alle Zellen sind von einem Material umgeben, das sie strukturell unterstützt. Wir nennen es extrazelluläre Matrix oder kurz ECM. Frühere Untersuchungen hatten gezeigt, dass Progerin die Produktion von ECM-Proteinen negativ beeinflusst und so zu einer gestörten Zellumgebung und langsamerer Proliferation beiträgt. Wir konnten nun zeigen, dass das im Zusammenhang mit den niedrigen LAP2α Mengen steht. Gaben wir Progerie-Zellen LAP2α, hatten sie wieder eine intakte ECM, vermehrten sich normal und traten nicht in den zellulären Alterungsprozess ein“, beschreibt Vidak ihre Ergebnisse.

Die Erkenntnisse der Studie, warum und wie Progerin die Produktion von ECM-Proteinen und die normale Proliferation beeinträchtigt, eröffnet neue Wege zur Entwicklung spezifischer therapeutischer Strategien zur Behandlung von Progerie. Da die frühzeitige


Alterung bei Progerie in vielen Aspekten der normalen Alterung gleicht, erlauben die Ergebnisse auch Rückschlüsse auf die zellulären Vorgänge während des normalen Alterungsprozesses.

Die Studie wurde von der Progeria Research Foundation und dem österreichischen Wissenschaftsfonds FWF finanziert. Sandra Vidak ist Doktorandin im FWF-Doktoratskolleg „Molecular Mechanisms of Cell Signaling” an den MFPL.

Service: Genes & Development
Sandra Vidak, Nard Kubben, Thomas Dechat und Roland Foisner: Proliferation of progeria cells is enhanced by Lamina-associated polypeptide (LAP) 2α through expression of extracellular matrix proteins. In: Genes & Development (September 2015). Link zur Studie: http://dx.doi.org/10.1101/gad.263939.115