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„Wir dürfen als Wissenschafter keine Bittsteller sein!“

Wie altruistisch ist der Mensch und wie geht er mit seinen Freunden und Feinden um? Und unter welchen Konstellationen kollabiert ein Wirtschaftssystem? Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigt sich Prof. Stefan Thurner.

(Wien, 27-09-2010) Wie altruistisch ist der Mensch und wie geht er mit seinen Freunden und Feinden um? Und unter welchen Konstellationen kollabiert ein Wirtschaftssystem? Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigt sich Prof. Stefan Thurner.

Der Physiker leitet das Institut für Wissenschaft komplexer Systeme, berät derzeit die OECD in Fragen zur Finanzmarktaufsicht und ist externer Professor am Santa Fe Institute in New Mexico, einem der renommiertesten Think Tanks der USA. Was uns menschliche Beziehungen im Kleinen über die großen Fragen unserer Gesellschaft sagen, wie Männer auf Frauen in ihren Netzwerken agieren und warum etliche Firmen so ineffizient sind, haben wir ihn gefragt. So spannend wie die Themen mit denen sich der Physiker und Finanzökonom beschäftigt, ist auch das Gespräch mit ihm!
 
Herr Professor Thurner, was genau bedeutet die quantitative Erforschung komplexer Systeme?
Thurner: Wir erforschen Systeme, die wir nicht im Griff haben. Das können etwa Zellen, soziale Systeme oder Lebewesen sein. Allen ist gemein, dass die klassische Falsifizierbarkeit von Popper noch nicht angewendet werden kann, denn diese Systeme lassen sich naturwissenschaftlich noch nicht falsifizieren. Auch mit sozialen Experimenten ist es hier nicht getan, es liegt bisher nicht genug empirisches Datenmaterial vor, das erlauben würde komplexe Systeme naturwissenschaftlich zu verstehen.
Diese Systeme ändern laufend ihre Randbedingungen, sprich von den Details der Gegenwart hängt ab, was in der Zukunft passieren wird. Auch Netzwerkaspekte sind entscheidend: Wer hat mit wem wie viel Interaktion? Das ist extrem kompliziert, kein Mensch kann das überschauen. Erst mit dem Computer wurde es möglich, künstliche Welten nachzustellen, um Daten zu erzeugen, die es in der echten Welt nicht gibt. Auf diese Weise werden unsere Fragen und Annahmen rechenbar und verstehbar.

Zur Überprüfung sozial- und naturwissenschaftlicher Annahmen untersuchen Sie das Verhalten der rund 300.000 Spieler im Onlinespiel Pardus. Wie kommen Sie darauf, dass sich Menschen in der virtuellen Welt genau so verhalten wie in der realen Welt?
Thurner: Der Mathematiker Michael Szell hat dieses Spiel entwickelt. Es funktioniert wie „Second Life“ nur spielt es im Weltraum. Die Spieler nehmen in Pardus neue Identitäten an, suchen sich Jobs, verdienen Geld und geben es aus, haben Feinde und Freunde und kommunizieren ständig miteinander.

Aber woher wollen Sie wissen, dass sich die Spieler wie im realen Leben verhalten?
Kollegen von uns haben Daten zum Telefonverhalten der spanischen und belgischen Bevölkerung vermessen. Diese Daten haben wir mit jenen der Pardus-Spieler verglichen und festgestellt: Die Kommunikation läuft nahezu ident. Ähnliches gilt etwa auch Freundschaftsnetzwerke. So unterschiedlich zur realen, können sich die Spieler in ihrer künstlichen Welt also nicht verhalten.

Was möchten Sie mit diesem Datensatz erforschen und was können Sie uns schon sagen?
Thurner: Wir sitzen auf einem sensationellen und weltweit größten vollständigen Datensatz, den es über eine Gesellschaft gibt und nützen ihn, um mittels Netzwerkanalysen der Spielerbewegungen soziologische Hypothesen empirisch zu überprüfen. Wenn wir uns lokale Beziehungen ansehen, können wir diese Ergebnisse auf ganze Gesellschaften hochrechnen. Lokale Beziehungen werden von uns auf kollektive Eigenschaften einer Gesellschaft hochgerechnet und damit für die Zukunft vorhersehbarer.

Ein konkretes Beispiel?
Thurner: Wann kippen Systeme? Niemand weiß derzeit, wo genau der kritische Punkt liegt. Aber man kann Randbedingungen so verändern, dass die Wahrscheinlichkeit für einen Crash sinkt – um Potenzen. Die weltweite Komplexitätsforschung hat das Rüstzeug dazu, Veränderungen in Modellen zu testen. Wir haben ein Modell entwickelt, das einen kritischen Punkt für die Stabilität von Finanzmärkten benennt.

Wie schätzen Sie das Risiko einer erneuten Krise ein?
Thurner: Die Gefahr ist sehr hoch. Die Finanzmärkte sind dort, wo sie vor der Krise waren. Es werden spekulative Investitionen mit geborgtem Geld gemacht, als wäre nichts geschehen. Komplexe Systeme sind oft robust und halten lange viel aus, ohne sich groß zu verändern. Doch massive Fehler von Politik oder Wirtschaft, kriminelle Aktivitäten, oder selbst Eingriffe wie Bankenrettungen können an einem bestimmten, kritischen Punkt den Effekt einer „Stabilisierungsmaßnahme“ ins Gegenteil verkehren. Plötzlich ist nichts mehr kontrollierbar und das System. Wenn Staaten ihre Kernaufgaben nicht mehr wahrnehmen können, wie etwa Pensionen und Sozialsysteme; Krankenhäuser nicht mehr funktionieren und Gehälter nicht mehr ausbezahlt werden, drehen Menschen durch und es drohen Aufstände.

Die Bankenrettungspakete vieler Staaten könnten also das Gegenteil bewirken?
Thurner: Die momentane Situation ist jedenfalls gefährlich. Durch die immensen Garantien, die das Geld ja binden, haben die Staaten immens an Handlungsspielraum verloren. Der Punkt ist: Verspekulieren Menschen nur ihr eigenes Geld passiert nichts. Wird mit Krediten Geld verspekuliert, und ziehen zu viele Menschen mit, kommt es zur Blase und die Sache geht schief. Mit Leverage, wird der Grad der Fremdfinanzierung von spekulativen Investments bezeichnet. Solche Kredite sind in der Finanzwelt massiv in Verwendung. Nimmt eine Privatperson einen Kredit auf, um mit Aktien zu spekulieren, haben wir einen Leverage von sieben. Fremdwährungsspekulationen sind „geleveraged“ mit 100. In unserem Modell steigt die Kollaps-Wahrscheinlichkeit eines Staates ab einem Leverage von zehn um Potenzen. Stabil ist das System bei einem Leverage deutlich unter fünf.

Wie wurde Ihr Modell entwickelt?
Thurner: Mit Simulationen über tausende Zeiteinheiten hinweg generieren wir künstliche Strukturen, die es in der realen Welt auch gibt, wie etwa Preisentwicklungen. Tauchen diese Eigenschaften auf, ist unser Modell okay. Wir sehen dann zum Beispiel, wie ein stabiles Netzwerk aussehen soll und wie es sich dorthin entwickelt. Daraus kann eine intelligente Selbstregulation entstehen – statt einer direkten Intervention mit unbekanntem Ausgang.

Was schlagen Sie vor?
Thurner: Transparenz und Öffentlichkeit darüber, wer wo, wie hoch verschuldet ist und was mit dem Geld geschieht. Diese Daten sind ja in den Zentralbanken zum Teil vorhanden und so wüssten wir endlich Bescheid. Wir stellen uns eine Art globales Thermometer vor: In jeder relevanten Finanzinstitution wird der Leverage gemessen, und wenn es irgendwo zu heiß wird, wird die Kreditvergabe runtergefahren.

Noch einmal zu Padus, Sie werten die Handlungen von 300.000 Spielern aus. Ist der Mensch gut?
Thurner: Unsere Spieler handeln überwiegend sozial und kooperativ, und dass obwohl die Gewaltbereitschaft in Online-Spielen wesentlich höher ist, als im realen Leben.

Gibt es Unterschiede zwischen Frauen und Männern?
Thurner: Ja! Frauen reden mehr, handeln im Spiel erfolgreicher als Männer und sind bei weitem weniger aggressiv. Auch im Umgang mit den eigenen Netzwerken gibt es Unterschiede: Frauen machen ihre Freundinnen miteinander bekannt. Männer tun das in dieser Form nicht, sie fürchten die Bildung konkurrierender Allianzen. Während Frauen in schwierigen Situationen dann von einem breiten Netzwerk getragen werden, stehen Männer in Krisen eher alleine da. Beim Umgang mit Feinden sind Frauen hingegen zurückhaltender: Erhält eine Frau eine Feindschaft, reagiert sie passiv. Bekommt ein Mann eine zugeschickt, reagiert er in der Minute und schießt mit einer Feindschaft zurück.

Thema Kommunikationskultur, Sie können aufschlüsseln, wann und in welcher Weise in einer Firma die Kommunikation funktioniert – oder wo und warum sie ineffizient ist.
Thurner: Was wir wissen ist, Feinde kommunizieren nicht miteinander, Freunde aber sehr viel. Effizienz herrscht nur, wo reibungslos kommuniziert wird und wie effizient eine Firma ist, das sagt uns die Kommunikationskultur. Wir haben ein Modell entwickelt, dass uns aufzeigt, wie der organisierte Kommunikationsfluss einer Firma aussieht. Welche Abteilungen kommunizieren wie oft miteinander und wo herrschen Blockaden? Für die Auswertung reichen uns zum Beispiel die internen Telefonlisten.

Was treibt Sie an und was hemmt Ihre Arbeit?
Thurner: Wie können wir eine neue Mathematik entwickeln und sie auf life sience anwenden, darum geht es! Das CeMM beim neuen Anna-Spiegel-Forschungszentrum ist ein Fortschritt auf diesem Weg, und wir freuen uns auf die Zusammenarbeit mit den Kollegen von der Bio-Informatikgruppe. Aber Spitzenforschung braucht Geld. Wir haben an unserem Institut Spitzenköpfe, aber es fehlen die Gehälter, um sie zu halten. Als Wissenschafter wird man weltweit zunehmend zum Bittsteller degradiert. Ich möchte meine Zeit aber weniger mit dem Schreiben von Bittgesuchen verbringen, sondern um Wissenschaft zu machen.