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Genetische Ursache einer schweren Nervenschädigung bei älteren Erwachsenen mit Gehunfähigkeit entschlüsselt

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Forscherteam identifziert betroffenes Gen

(Wien, 02-09-2016) Angeborene Genmutationen führen dazu, dass Betroffene in höherem Lebensalter eine schwere Nervenschädigung (Polyneuropathie) mit Lähmungen, Gefühlsstörungen und Schmerzen entwickeln. Die Erkrankung kann rasch fortschreiten und bis hin zur Gehunfähigkeit mit Rollstuhlabhängigkeit führen. Das betroffene Gen wurde nun von einem internationalen Forscherteam unter Führung der Medizinischen Universität Wien und der Universität München identifiziert.

„Die Genmutation führt zu einem Enzymmangel, der wahrscheinlich die Nervenschädigung auslöst. Der Ausgleich der verminderten Enzymaktivität könnte in Zukunft einen neuartigen Therapieansatz darstellen, durch den die Erkrankung gestoppt werden könnte“, sagt Michaela Auer-Grumbach von der Universitätsklinik für Orthopädie der MedUni Wien. Eine Polyneuropathie kommt bei 2-3 Prozent der Bevölkerung und bei 7 Prozent der über 65-Jährigen vor, die Ursache bleibt derzeit noch in bis zu 50 Prozent der Betroffenen unklar, und es steht für diese PatientInnengruppe bisher keine kausale Therapie zur Verfügung.

Ausgangspunkt dieser Entdeckung waren drei nicht miteinander verwandte österreichische Familien, in denen mehrere Familienmitglieder zwischen dem 55. und 80. Lebensjahr zunächst Gefühlsstörungen und Missempfindungen in den Zehen bemerkten, die sich innerhalb weniger Monate bis Jahre bis hin zu den Knien ausbreiteten. Hinzu kamen oft Schmerzen und auch eine relativ rasch fortschreitende Muskelschwäche beim Anheben der Zehen und Füße. Auer-Grumbach: „Nach einigen Jahren war freies Gehen oft nicht mehr möglich.“ Trotz umfassender Untersuchungen konnte die Ursache zunächst nicht geklärt werden.

„Einige PatientInnen wurden wegen der raschen Verschlechterung der Symptome zunächst mit ungeeigneten Medikamenten behandelt, die keine Besserung, aber oft erhebliche Nebenwirkungen hervorriefen. Aufgrund des schlechten Ansprechens auf entzündungshemmende Medikamente, aber auch wegen der familiären Häufung der Polyneuropathie, vermuteten wir schließlich eine genetische Ursache, auch wenn der späte Krankheitsbeginn für vererbte Polyneuropathien eher untypisch erschien. Eine Analyse des gesamten Exoms der PatientInnen, also aller Abschnitte der Erbsubstanz, die Proteine verschlüsseln, ergab dann in allen drei Familien eine schwerwiegende genetische Abweichung im MME-Gen, das für die Bildung des Enzyms Neprilysin verantwortlich ist “, erläutert die MedUni Wien-Forscherin, die auch Erstautorin und Leiterin der Studie ist.

Gemeinsam mit Jan Senderek vom Friedrich-Baur-Institut der Neurologischen Klinik und Poliklinik der Universität München, dem auch in Deutschland ähnliche PatientInnen bekannt waren, wurde das MME-Gen bei weiteren PatientInnen getestet. Nach Einbeziehung weiterer europäischer und amerikanischer Arbeitsgruppen konnten Mutationen bei 28 PatientInnen aus 19 Familien identifiziert werden. Eine weitere Bestätigung dieser Forschungsergebnisse lieferten dann die Resultate der Messungen des Enzyms Neprilysin im Blut- und Fettgewebe, die bei PatientInnen signifikant niedriger waren als bei Kontrollpersonen. Eine zusätzliche Studie aus Japan, die ebenfalls schwere Polyneuropathien bei völligem Fehlen des Enzyms Neprilysin beschreibt, bestätigte die Studienergebnisse der Wiener und Münchener Arbeitsgruppen, die nun in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „American Journal of Human Genetics“ veröffentlicht wurden.

Ein Enzymmangel führt zur Entwicklung einer schweren Polyneuropathie
„Die Entdeckung der Ursache dieser Erkrankung ermöglicht die gezielte genetische Diagnostik und Beratung betroffener PatientInnen und ihrer Familien und wird zukünftig nicht wirksame, aber durch unerwünschte Nebenwirkungen belastende Therapien vermeiden“, fasst Michaela Auer-Grumbach zusammen. „Wenn weitere Studien bestätigen, dass der Mangel an Neprilysin zur Entstehung der Polyneuropathie führt, gibt es berechtigte Hoffnung, dass auch bald eine wirksame Therapie entwickelt werden kann, entweder durch Enzymersatz oder mit Wirkstoffen, von denen bereits bekannt ist, dass sie den Neprilysinspiegel erhöhen.

Die Autoren der Studie (die durch ein FWF-Projekt ermöglicht wurde) planen nun weitere epidemiologische Untersuchungen von PatientInnen mit unklaren Polyneuropathien, um herauszufinden, ob Mutationen im MME-Gen auch bei sporadischem (nicht familiär gehäuftem) Auftreten von Polyneuropathien eine Rolle spielen. „Polyneuropathien ab dem 50. Lebensjahr sind häufig, aber nur bei ca. 50 Prozent kann derzeit die Ursache geklärt und eine entsprechende Therapie eingeleitet werden. Wir hoffen, dass zukünftig ein MME-/Neprilysin-Schnelltest zur raschen Diagnose führen kann und auch dadurch die Entwicklung einer Therapie beschleunigt wird“, so Michaela Auer-Grumbach.

Service: American Journal Human Genetics
"Rare variants in MME, encoding metalloprotease neprilysin, are linked to late-onset autosomal dominant axonal polyneuropathies". AJHG, 2016, M. Auer-Grumbach, S. Tögel, M. Schabhüttl, D. Weinmann, C. Chian, D. Bennett, C. Beetz, D. Klein, P. Andersen, I. Böhme, R. Fink-Puches, M. Gonzalez, M. Harms, W. Motley, M. Reilly, W. Renner, S. Rudnik-Schöneborn, B. Schlotter-Weigl, A. Themistocleous, J. Weishaupt, A. Ludloph, T. Wieland, F. Tao, L. Abreu, R. Windhager, M. Zitzelsberger, T. Strom, T. Walther, S. Scherer, S. Züchner, R. Martini, J. Senderek.AJHG, Volume 99, Issue 3, 1 September 2016, Pages 607-623.  http://dx.doi.org/10.1016/j.ajhg.2016.07.008.