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Kindergehirne reorganisieren nach Läsionen ihre Sprachzentren

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Darstellung der Sprachareale im gesunden kindlichen Gehirn

(Wien, 29-10-2018) Kinder mit Gehirnverletzungen sind in der Lage, ihre sprachrelevanten Areale in andere, gesunde Hirnbereiche zu reorganisieren und so die Sprachfähigkeit zu erhalten. Das gelingt aber nur bis zu einem gewissen Grad, sie haben im Vergleich zu gesunden Kindern trotzdem häufig verschlechterte Sprachfähigkeiten. Für das Sprechen zuständige Hirnareale werden offenbar schon in der embryonalen Entwicklung festgelegt. Das sind die ersten zentralen Ergebnisse einer interdisziplinären Forschungskooperation der MedUni Wien, die die Entwicklung der Sprache im Gehirn vom Ungeborenen bis hin zum Jugendlichen untersucht. 

Ein interdisziplinäres Team der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde und der Universitätsklinik für Radiologie und Nuklearmedizin der MedUni Wien untersucht, wie die individuelle Lokalisation von Spracharealen im Gehirn mit den individuellen Sprachfähigkeiten zusammenhängt und wie sich eine Läsion im kindlichen Gehirn auf die Sprachlokalisation und die Sprachfähigkeiten des Kindes auswirkt.

Gesunde Kinder mit besseren Sprachfähigkeiten nutzen demnach häufiger ein bilaterales Sprachnetzwerk, das Regionen beider Hemisphären miteinander verbindet. So zeigen die ForscherInnen unter Projektleitung der Neurolinguistin und Klinischen Linguistin Lisa Bartha-Doering von der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, dass bei gesunden Kindern ein größerer Wortschatz, eine höhere verbale Flexibilität und ein besseres verbales Lernen mit einer stärker bilateral organisierten Sprachlokalisation assoziiert ist.

Sprachareale werden im Gehirn schon vor der Geburt festgelegt
Auch bei Kindern, die einen Schlaganfall erlitten hatten, konnten die ForscherInnen einen signifikanten Zusammenhang zwischen Sprachlokalisation und Sprachfähigkeiten nachweisen. Während das Alter bei Auftreten des Schlaganfalls, Läsionsgröße oder Läsionslokalisation keinen Einfluss auf die Sprachfähigkeiten hatten, zeigte sich eine atypische Reorganisation der Sprachareale aber als nachteilig für die Sprachfähigkeiten.

Bartha-Doering dazu: „Unsere bisherigen Ergebnisse weisen darauf hin, dass es eine frühkindliche, wahrscheinlich schon vorgeburtliche Prädisposition von spezifischen Spracharealen beim Menschen gibt. Selbst wenn eine Verletzung neuronaler Strukturen sehr früh in der Entwicklung auftritt, ist das kindliche Gehirn nicht uneingeschränkt fähig, sprachrelevante Areale zu reorganisieren. Eine atypische Reorganisation geht mit einer signifikanten Verschlechterung der Sprachfähigkeiten einher. Hier sind der wohlgerühmten kindlichen Plastizität des Gehirns doch Grenzen gesetzt.“

Gerade die sehr frühe funktionelle Entwicklung relevanter Hirnstrukturen steht nun in Zukunft im Fokus des Forschungsteams. In einem FWF-KLIF Projekt (PI: Lisa Bartha-Doering) beschäftigen sich die ForscherInnen mit der Frage, inwieweit fetale MRI-Diagnostik Vorhersagen über die spätere Sprachlokalisation und Sprachentwicklung geben kann. Auch hierzu sind schon zwei erste Publikationen entstanden, die einen Zusammenhang zwischen struktureller fetaler Entwicklung der temporalen Hirnstrukturen und späterer Sprachlokalisation aufzeigen.

Bartha-Doering: „Die neuropädiatrische Ambulanz der Kinderklinik unter der Leitung von Rainer Seidl ist spezialisiert auf die entwicklungsneurologische Beratung anhand fetaler Bildgebung.  Wir sind besonders glücklich über die tolle kollegiale Zusammenarbeit mit der Radiologie, allen voran Daniela Prayer, Gregor Kasprian und Georg Langs. Die Radiologie der MedUni Wien ist gerade im Bereich der fetalen Diagnostik weltberühmt, und die Verknüpfung von hochentwickeltem radiologischen Können mit neurolinguistischen Fragestellungen ist einzigartig.“

Die Ergebnisse dieser Forschung sollen in Zukunft genauere Prognosen der weiteren kognitiven Entwicklung und das frühe Planen gezielter Therapiestrategien ermöglichen. Ziel ist es, mittels funktioneller Bildgebung bei gesunden Kindern wie auch bei Kindern mit neurologischen Erkrankungen Vorhersagen zu treffen, wie sie sich kognitiv entwickeln werden.

Die Studien wurden vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung FWF (KLIF 544-B27) und von der Österreichischen Nationalbank (Jubiläumsfonds 15356) gefördert.

Service:
Bartha-Doering L, Novak A, Kollndorfer K, Schuler AL, Kasprian G, Langs G, Schwartz E, Fischmeister FPS, Prayer D, Seidl R. Atypical language representation is unfavorable for language abilities following childhood stroke. European Journal of Paediatric Neurology, 2018. Doi: 10.1016/j.ejpn.2018.09.007
Link: https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1090379818301855?via%3Dihub


Bartha-Doering L, Kollndorfer K, Kasprian G, Novak A, Schuler AL, Fischmeister FPh, Alexopoulos J, Gaillard WD, Prayer D, Seidl R, Berl MM. Weaker Semantic Language Lateralization Associated with Better Semantic Language Performance in Healthy Right-handed Children. Brain and Behavior 2018. Doi: 10.1002/brb3.1072
Link zum Paper: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/brb3.1072


Bartha-Doering L, Novak A, Kollndorfer K, Kasprian G, Schuler AL, Berl MM, Fischmeister FPS, Gaillard WD, Alexopoulos J, Prayer D, Seidl R. When two are better than one: Bilateral mesial temporal lobe contributions associated with better vocabulary skills in children and adolescents. Brain and Language, 210. Doi: 10.1016/j.bandl.2018.06.001
Link zum Paper: https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0093934X17301608?via%3Dihub