(Wien, 14. Juli 2020) Welche staatlichen Maßnahmen wirken, und wie gut wirken sie, um die COVID-19-Pandemie einzudämmen? Ein internationales Wissenschaftsteam rund um den Complexity Science Hub Vienna (CSH) hat die weltweiten Maßnahmenpakete aufgedröselt, die zwischen Januar und Mai 2020 ergriffen wurden, und eine detaillierte Wirksamkeitsbeurteilung erstellt. Die WissenschafterInnen quantifizieren den Beitrag jeder Maßnahme zur Reduktion der berühmt gewordenen "Reproduktionszahl" R(t). Sie gibt an, wie viele Menschen von einer erkrankten Person im Durchschnitt infiziert werden. Um die Ausbreitung einer Krankheit einzudämmen, muss R(t) unter eins liegen.
"Social distancing funktioniert eindeutig am besten", sagt Studienleiter Peter Klimek (CSH, MedUni Wien). "Ob wir Eltern es mögen oder nicht, aber die bei weitem wirksamste Maßnahme ist unserer Studie zufolge die Schließung von Bildungseinrichtungen." Ebenfalls hoch wirksam ist das Verbieten kleiner Zusammenkünfte – darunter fällt zum Beispiel das Schließen von Geschäften und Restaurants oder Homeoffice – , Reisebeschränkungen, etwa Grenzschließungen, eine aktive Risikokommunikation mit Interessenvertretern, z.B. durch die Förderung von Sicherheitsprotokollen in Firmen oder bei Veranstaltungen, sowie die Stärkung der Gesundheitssysteme im Umgang mit der Pandemie, etwa durch eine gezielte Aufklärung über COVID-19, die Bereitstellung von Schutzausrüstung für Beschäftigte im Gesundheitswesen oder die Trennung von PatientInnen mit und ohne COVID-19 in Krankenhäusern.
"Allerdings ist keine Maßnahme allein wirksam genug, um R(t) unter eins zu senken“, betont der Erstautor der Studie, Nils Haug (CSH, MedUni Wien). "Die wirksamste Intervention – die Schließung von Kindergärten, Schulen und Universitäten – reduziert die Reproduktionszahl um maximal 0,34.“ Derzeit wird angenommen, dass ohne alle Interventionen R(t) bei etwa 3 liegt. Allein durch die Schließung von Bildungseinrichtungen würde jede infizierte Person durchschnittlich nur noch 2,7 statt 3 Menschen infizieren.
Um die Kurve abzuflachen, braucht es daher einen cleveren Maßnahmenmix – und zwar "je früher, desto besser", so ein weiteres Ergebnis der CSH-Studie. "Timing ist tatsächlich die halbe Miete“, so Komplexitätsforscher Haug. Das früh beworbene freiwillige Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes zum Beispiel ist deutlich wirksamer als ein verpflichtendes Maskentragen, das erst zu einem späteren Zeitpunkt vorgeschrieben wird. "Wir sehen hier tatsächlich ein Muster: Frühe und freiwillige Interventionen sind wirksamer als solche, die spät und verpflichtend eingeführt werden“, so Haug. Neben Gesichtsmasken galt das auch für die (Selbst-)Isolierung von Personen mit Symptomen oder für Sicherheitsmaßnahmen am Arbeitsplatz. Eine aktive Risikokommunikation mit der Öffentlichkeit und die Aufklärung und Information aller relevanten Interessengruppen ist demnach ein Schlüssel zur Eindämmung der Epidemie.
Auch Lockdowns waren am wirksamsten, wenn sie frühzeitig verhängt wurden. Sie hatten aber auch enorme Auswirkungen auf das soziale und kulturelle Leben, das Wohlbefinden der Menschen und die Wirtschaft. "Die gute Nachricht unserer Studie ist: Es braucht nicht unbedingt derart weitreichende Maßnahmen, um die Kurve abzuflachen. Mit der richtigen Kombination weniger starker Eingriffe kann die Reproduktionszahl ebenfalls erheblich reduziert werden", betont Komplexitätsforscher Peter Klimek.
Die vorliegende bisher detaillierteste Analyse staatlicher Maßnahmen basiert auf der CSH COVID-19 Control Strategies List (CCCSL), einer Datenbank, die auch von der WHO verwendet wird. Sie umfasst fast 4.600 Einzelmaßnahmen in 76 verschiedenen Regionen weltweit, darunter mehr als zwanzig US-Bundesstaaten, europäische Länder und asiatische Regionen wie Japan und Hongkong.
Das Wissenschaftsteam verwendete vier verschiedene Methoden für die Datenanalyse. "Die sehr unterschiedlichen Ansätze kommen zu bemerkenswert ähnlichen Schlussfolgerungen,“ so Klimek. „Das stimmt uns zuversichtlich, dass unser Ranking sehr aussagekräftig ist und Entscheidungsträgern bei der Bekämpfung der derzeit beginnenden zweiten Welle der Pandemie eine große Hilfe sein kann.“
N. Haug, L. Geyrhofer, A. Londei, E. Dervic, A. Desvars-Larrive, V. Loreto, B. Pinior, S. Thurner, P. Klimek, Ranking the effectiveness of worldwide COVID-19 government interventions, https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.07.06.20147199v1
A. Desvars-Larrive, E. Dervic, N. Haug, et al., A structured open dataset of government interventions in response to COVID-19, https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.05.04.20090498v1