(Wien, 24-07-2023) Krebs trifft obdach- und wohnungslose Menschen doppelt so häufig wie die Allgemeinbevölkerung und ist die zweithäufigste Todesursache in dieser medizinisch unterversorgten Gruppe. Gleichzeitig fehlen Bewusstsein und Struktur für gezielte Krebsvorsorge. Vor diesem Hintergrund erforschte ein Team unter der Leitung der MedUni Wien die aktuelle Situation in vier Ländern Europas und formulierte Ansätze für die Entwicklung eines Präventionsprogramms. Die Studie ist aktuell im Fachjournal eClinicalMedicine erschienen.
Im Rahmen der Studie des Forschungsteams um Tobias Schiffler und Igor Grabovac von der Abteilung für Sozial- und Präventivmedizin des Zentrums für Public Health der MedUni Wien wurden die Erfahrungen und Sichtweisen jener erhoben, die direkt betroffen sind: obdach- und wohnungslose Menschen mit und ohne Krebs sowie Fachkräfte in Einrichtungen der Gesundheits- und Sozialdienste. Angehörige dieser Gruppen in Österreich, Griechenland, Großbritannien und Spanien gaben Einblicke in bestehende Gegebenheiten und Hindernisse bei der Krebsvorsorge für Menschen am Rande der Gesellschaft. „Die Datenlage zu dieser Problematik war bisher äußerst dünn“, betont Erstautor Tobias Schiffler die hohe Relevanz der qualitativen Forschungsarbeit.
Check-ups als „Luxus“
Wie die Studie ergab, ist das Bewusstsein für Krebsvorsorge bei obdach- und wohnungslosen Menschen sowohl bei den Betroffenen selbst als auch bei den Vertreter:innen der Gesundheits- und Sozialdienste nur in geringem Maß vorhanden. So spricht z. B. eine wohnungslose Person aus Österreich im Interview von einem „Luxus, sich um Vorsorgeuntersuchungen und Check-ups zu kümmern, wenn man noch akute Probleme mit sich herumträgt“. Ein Mangel besteht auch bei zielgruppenspezifischen Angeboten zur Krebsprävention. Einzelne lokale Initiativen scheitern meist daran, obdach- und wohnungslose Menschen in ausreichendem Maß zu erreichen.
Wird Krebs bei einem Angehörigen dieser unterversorgten Bevölkerungsgruppe doch einmal entdeckt, so geschieht das oft in Zusammenhang mit der notärztlichen Versorgung einer akuten Erkrankung bzw. Verletzung. Oder aber der Tumor ist bereits so weit fortgeschritten, dass er Beschwerden verursacht. Regelmäßige Behandlungs- oder Nachsorgemaßnahmen, die dann eventuell noch möglich sind, erweisen sich aufgrund der Lebensumstände obdach- und wohnungsloser Menschen naturgemäß als schwierig. In einzelnen Ländern stehen die Betroffenen zudem vor finanziellen oder strukturellen Barrieren beim Zugang zum Gesundheitssystem. Das führt dazu, dass sich obdach- und wohnungslose Menschen nicht in dem Maß um ihre Gesundheit kümmern können, wie sie das – auch nach eigenen Aussagen – eigentlich möchten. Entsprechend werden Erkrankungen oft erst spät oder zu spät erkannt.
Lebenserwartung von 47 Jahren
Die durchschnittliche Lebenserwartung von obdach- und wohnungslosen Menschen liegt bei 47 Jahren, wie Daten aus Großbritannien zeigen. Ursache dafür ist die insgesamt höhere Krankheitslast dieser Gruppe. Krebs trifft Menschen mit Obdachlosigkeitserfahrungen doppelt so häufig wie die Allgemeinbevölkerung. Dies wird u. a. mit einer höheren Prävalenz von Risikoverhalten (z. B. Alkohol- und Tabakkonsum), aber auch mit dem häufigeren Auftreten von Infektionskrankheiten und Mangelernährung sowie den genannten Barrieren beim Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Verbindung gebracht.
„Unsere Studie ist eine der ersten, die Krebsvorsorge aus der Perspektive direkt Betroffener beleuchtet. Die Ergebnisse können die Basis maßgeschneiderter und zielgerichteter Präventionsmaßnahmen bilden, die die Bedürfnisse und Umstände dieser Zielgruppe berücksichtigen“, sagt Studienleiter Igor Grabovac. Die Studie wurde im Rahmen des groß angelegten EU-Projekts „CANCERLESS“ (Cancer prevention and early detection among the homeless population in Europe: Co-adapting and implementing the Health Navigator Model) durchgeführt, die ebenfalls von Grabovac geleitet wird.
Publikation: eClinicalMedicine
Access to cancer preventive care and program considerations for people experiencing homelessness across four European countries: an exploratory qualitative study;
Tobias Schiffler, Christina Carmichael, Lee Smith, Ascensión Doñate-Martínez, Tamara Alhambra-Borrás, Miguel Rico Varadé , Jaime Barrio Cortes, Matina Kouvari, Pania Karnaki, Maria Moudatsou, Ioanna Tabaki, Alejandro Gil-Salmeron, Igor Grabovac;
https://doi.org/10.1016/j.eclinm.2023.102095