
(Wien, 25.11.2024) Sekundäre lymphatische Organe sind spezialisierte Strukturen im Körper, in denen sich Immunzellen vermehren und weiterentwickeln, um auf neue Krankheitserreger wie Viren und Bakterien zu reagieren. Ein internationales Team unter der Leitung von Kaan Boztug (St. Anna Kinderkrebsforschung, MedUni Wien, CeMM) konnte nun eine völlig neue Form einer seltenen Erkrankung identifizieren, die ein besseres Verständnis zur Bedeutung dieser Strukturen für das menschliche Immunsystem ermöglicht. Bei mehreren Kindern führt der von den Forschenden erstmals entdeckte genetische Defekt dazu, dass die sekundären lymphatischen Organe entweder gar nicht ausgebildet werden oder in ihrer Funktion stark eingeschränkt sind. In der Folge leiden die betroffenen Kinder unter wiederkehrenden, lebensbedrohlichen Infektionen. Diese Entdeckung hat das Potenzial, die Behandlungsmöglichkeiten für Patienten mit ähnlichen Erkrankungen erheblich zu verbessern.
In den vergangenen Jahren hat die Forschungsgruppe um Kaan Boztug mehrere seltene genetische Erkrankungen des Immunsystems identifiziert und hierdurch die Funktion wichtiger Bestandteile des Immunsystems charakterisiert. Die Arbeiten um das Team von Kaan Boztug haben auch wesentliche neue Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen Immundefekten und die Neigung zur Entwicklung von Tumorerkrankungen im Kindesalter erbracht. Der Experte für seltene Erkrankungen ist wissenschaftlicher Direktor der St. Anna Kinderkrebsforschung, forscht an der MedUni Wien und am CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der ÖAW.
Ein ganz neuer Erkrankungstyp
Die aktuelle Studie, die in Kooperation mit führenden Zentren in Istanbul und Ankara durchgeführt wurde, beschreibt eine neuartige seltene Erkrankung, die gleich in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlich ist. „In der DNA der Betroffenen konnten wir Veränderungen im LTBR-Gen identifizieren, das den Bauplan für den Lymphotoxin-Beta-Rezeptor (LTβR) enthält“, erklärt Bernhard Ransmayr, Erstautor der Studie und PhD-Student im Labor von Kaan Boztug. Den betroffenen Patient:innen fehlen sämtliche Lymphknoten, einschließlich der Tonsillen (Mandeln), und ihre Milz ist nicht funktionsfähig. Diese sogenannten sekundären lymphatischen Organe sind jedoch essenziell für die Aktivierung des Immunsystems und die Differenzierung, also Weiterbildung und Vermehrung spezialisierter Immunzellen. In der Folge können diese Patient:innen keine ausreichende Anzahl von schützenden Antikörpern bilden. Interessanterweise sind die Immunzellen von dem genetischen Defekt gar nicht direkt betroffen, sondern indirekt durch das Fehlen der unterstützenden Umgebung in den sekundären lymphatischen Organen, erklärt Ransmayr. Dem Team gelang der Nachweis dafür, indem es im Labor eine künstliche Umgebung schuf, die die Struktur und Funktion von Lymphknoten nachahmte. In dieser Umgebung konnten sich auch Zellen von den Patient:innen in antikörperbildenden Immunzellen (B-Zellen) normal weiterentwickeln. Diese Erkenntnis unterstreicht die fundamentale Bedeutung der Interaktionen zwischen den umgebenden Zellen (sogenannten Stromazellen) und den eigentlichen Immunzellen für die Bildung einer effektiven Immunabwehr.
Von der Immungenetik zur Präzisionsmedizin
Boztug betont: „Die Entdeckung des LTβR-Defekts markiert einen bedeutenden Fortschritt in unserem Verständnis der Architektur von Immunorganen und ihrer Bedeutung für die menschliche Gesundheit. Sie verdeutlicht, wie grundlegende Forschung unmittelbar dazu beitragen kann, das Leben von Patient:innen mit seltenen Erkrankungen zu verbessern. Patienten mit LTβR-Mutationen profitieren von einer Betreuung in spezialisierten Immundefektzentren und entsprechende medikamentöse Unterstützung der Immunabwehr. Eine wichtige Erkenntnis unserer Arbeit ist, dass wir davon ausgehen, dass eine Knochenmarkstransplantation – die ja als Methode bei anderen Immundefekten eine Heilung ermöglichen kann - hier keinen Erfolg verspricht, da der Defekt nicht die Immunzellen selbst, sondern die Struktur von lymphatischen Organen an sich betrifft“, fügt Boztug hinzu. Das Ziel der weiteren Forschung ist, die molekularen Mechanismen von LTβR im menschlichen Immunsystem weiter zu entschlüsseln und mögliche Therapieoptionen weiterzuentwickeln.
Publikation: Science Immunology
LTβR deficiency causes lymph node aplasia and impaired B-cell differentiation
Bernhard Ransmayr M.D., Sevgi Köstel Bal, M.D., Ph.D., Marini Thian, Ph.D., Michael Svaton, M.D., Ph.D., Cheryl van de Wetering, Ph.D., Christoph Hafemeister, Ph.D., Anna Segarra-Roca, M.Sc., Jana Block, Ph.D., Alexandra Frohne, M.Sc., Ana Krolo, Ph.D., Melek Yorgun Altunbas, M.D., Sevgi Bilgic Eltan M.D., Ayca Kıykım, M.D., Omer Aydiner, M.D., Selin Kesim, M.D., Sabahat Inanir M.D., Elif Karakoc-Aydiner, M.D., Ahmet Ozen M.D., Ümran AbaM.Sc., Aylin Çomak M.D., Gökçen Dilşa Tuğcu, M.D., Robert Pazdzior, Ph.D., Bettina Huber, Ph.D., Matthias Farlik, Ph.D., Stefan Kubicek, Ph.D., Horst von BernuthM.D., Ph.D., Ingrid Simonitsch-Klupp., Marta Rizzi, M.D., Ph.D., Florian Halbritter, Ph.D., Alexei V. Tumanov, M.D., Ph.D., Michael J Kraakman Ph.D., Ayşe Metin, M.D., Ph.D., Irinka Castanon Ph.D., Baran Erman Ph.D., Safa Baris, M.D., Kaan Boztug.D.
https://www.science.org/doi/10.1126/sciimmunol.adq8796