(Wien/Linz, 03-09-2024) Der Forschungsbereich Art&Science zielt darauf ab, unkonventionelle Zusammenhänge zu erforschen, an denen die Wissenschaft aus methodischen Gründen weniger interessiert ist. Dieser Ansatz wird von der Ars Electronica verkörpert, dem weltweit führenden Festival für interaktive, digitale, biologische, KI- und Klangkunst (4.-8.September 2024). Die Art&Science-Gruppe des Zentrums für Public Health, unter der Leitung von Klaus Spiess sowie Emanuel Gollob von der Universität für Angewandte Kunst, präsentiert ein vom FWF (AR 687) gefördertes Projekt zur transgeografischen Kultur des Mikrobioms und verbindet dabei wissenschaftliche Forschung mit künstlerischem Zugriff.
Ein Tenor singt in einem transparenten doppelwandigen Bioreaktor, in dem seine orale Mikrobiota anwächst, die mit der Caruso Arie und technischen Klängen, beide aus Werner Herzogs Biopiraterie Film Fitzcarraldo, beschallt wird. Der Tenor versucht über einen Phonographen mit einem fiktiven Sprecher der gefährdeten amazonischen Mura Sprachgruppe, die für ihre phonetische Armut sowie hohe linguistische und mikrobiologische Diversität bekannt ist, eine lautliche Annäherung zu erreichen. Italienische und Mura Sprecher unterscheiden sich stark in der Anzahl ihrer Sprechlaute (30 vs 12) und ihrer mikrobiellen Diversität (20 % vs 100 %). Diese Unterschiede stellen den spekulativen Ausgangspunkt für die präsentierte Arbeit dar.
Hinreichend untersucht ist, wie sich unter Beschallung mit unterschiedlichen Frequenzen Zellskelett, Stoffwechsel, Wachstum und Vielfalt der Mikrobiota ändert. So wachsen Coli Bakterien bei Frequenzen von 3000 und 8000 Hz verstärkt. Mikroben ‚einverleiben‘ sich oder ‚kapitalisieren‘ bestimmte Frequenzen zu ihrem eigenen Vorteil, für ihren Stoffwechsel und ihr Wachstum. Anderseits schädigen bestimmte Frequenzen von Motorsägen, Maschinen oder Stadtlärm die Mikrobiota, Klänge wie sie auch aus Herzogs Film für die Installation übernommen wurden.
Basierend auf Echtzeit und Archivdaten der künstlerisch forschenden Gruppe und basierend auf Deep Learning bestimmt nun Stoffwechsel, Vielfalt und Schädigung der Mikrobiota des Tenors die mehrtägige lautliche Annäherung zwischen dem Tenor und dem Mura Sprecher.
Die Einverleibung der Klänge durch die orale Mikrobiota des Tenors, zwischen Vorteil und Schädigung, verknüpft die Gruppe nicht nur mit der kolonialen Einverleibung im Rahmen eines indigene Sprachaufnahmen und Mikrobiota sammelnden Wissenschafts- und Kunstkolonialismus, sondern auch mit der amazonischen Kosmologie, nach der man sich erst in seiner eigenen Einzigartigkeit versteht wenn man sich, nach deren Einverleibung, durch die Stimme des Anderen hört. In diesen Mythos ist die Rangordnung im Zusammenleben verschiedener Menschen, zwischen Kolonialisator und Kolonialisiertem, und verschiedenen Spezies aufgehoben. Themen zur einverleibenden Assimilierung und Identitätsbildung finden sowohl in der zeitgenössischen Kunst wie in der Mikrobiomforschung besondere Beachtung , insbesonders auch in der Suche nach angemessenen Kompensationsformen für die indigenen Amazonier.
Das Ars Electronica Festival findet von 4. bis 8. September 2024 in der PostCity Linz statt.
Link: Anthropophagic Myths, Biopiracy and Opera in the Amazon
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