
(Wien, 22-10-2025) Forschende der Medizinischen Universität Wien und des Dana-Farber Cancer Institute in Boston haben die zellulären und molekularen Mechanismen einer sehr seltenen und besonders aggressiven Krebsart im Kindesalter entschlüsselt: des Embryonalen Tumors mit mehrschichtigen Rosetten (ETMR). Die im Fachjournal „Nature Cancer“ publizierten Studienergebnisse eröffnen neue Perspektiven für gezielte Behandlungsstrategien.
ETMR betrifft fast ausschließlich Kinder unter vier Jahren und ist aufgrund seiner Seltenheit bislang kaum erforscht. In der aktuellen Studie wurden elf Tumorproben mit modernen Methoden der Einzelzell-RNA-Sequenzierung und räumlicher Bildgebung untersucht. Dabei konnten drei verschiedene bösartige Zelltypen identifiziert werden – von stammzellähnlichen über intermediäre bis zu stärker differenzierten, neuronenähnlichen Zellen. Diese Zelltypen bilden eine hierarchische Struktur, die jener der Gehirnentwicklung im Embryo ähnelt.
Ein zentrales Ergebnis der Untersuchungen des Forschungsteams betrifft den sogenannten C19MC-Cluster – eine Gruppe von microRNAs (kurze RNA-Moleküle, die Genaktivität regulieren), die auf Chromosom 19 liegen. Dieser Cluster spielt in der embryonalen Entwicklung eine wichtige Rolle, ist aber nach der Geburt normalerweise stillgelegt. In über 90 Prozent der ETMR-Fälle ist er jedoch wieder aktiviert. Das Forschungsteam konnte zeigen, dass C19MC vor allem in den stammzellenähnlichen Tumorzellen aktiv ist und dort zahlreiche Gene steuert, die für Zellteilung und Reifung entscheidend sind. Wird die Aktivität dieser microRNAs experimentell blockiert, verlangsamt sich das Tumorwachstum deutlich, und die Tumorzellen beginnen, sich zu differenzieren oder abzusterben.
Darüber hinaus zeigte die Analyse, dass die verschiedenen Tumorzelltypen über Signalstoffe miteinander kommunizieren. Differenziertere Zellen produzieren Wachstumsfaktoren, die wiederum stammzellenähnliche Zellen zur weiteren Teilung anregen. Diese Kommunikation erfolgt unter anderem über die FGFR- und Notch-Signalwege – zwei Mechanismen, die bereits bei anderen Krebsarten therapeutisch adressiert werden. In Labormodellen und Patient:innen-abgeleiteten Tumorproben konnten Inhibitoren dieser Signalwege die Tumorzellaktivität hemmen. Ein an ETMR erkrankter fünfjähriger Junge, der im Rahmen eines Einzelfallantrags mit einem FGFR-Hemmer behandelt wurde, zeigte nach zwei Monaten ein Teilansprechen des Tumors
„Unsere systematische Analyse auf Einzelzell-Ebene und die Verknüpfung mit funktionellen Experimenten erlauben erstmals einen detaillierten Blick auf die zelluläre Organisation und die molekularen Treiber von ETMR“, sagt Co-Erstautorin Lisa Gabler-Pamer von der Universitätsklinik für Neurochirurgie der MedUni Wien, die zum Zeitpunkt der Studie am Dana-Farber Cancer Institute in Boston tätig war und neben weiteren MedUni Wien-Forscher:innen maßgeblich zu den Erkenntnissen beigetragen hat. Die Studie liefert eine tiefgehende Charakterisierung der Tumorbiologie von ETMR – von der zellulären Architektur über die Regulation durch microRNAs bis hin zu den Signalnetzwerken innerhalb des Tumors. Darauf aufbauend eröffnen sich neue Ansätze für gezielte Therapien, die künftig dazu beitragen könnten, die bislang sehr schlechte Prognose dieser Erkrankung zu verbessern. Derzeit beträgt die mittlere Überlebenszeit der betroffenen Kinder nur rund 14 Monate.
Publikation: Nature Cancer
Cellular hierarchies of embryonal tumors with multilayered rosettes are shaped by oncogenic microRNAs and receptor–ligand interactions.
Alexander Beck, Lisa Gabler-Pamer, Gustavo Alencastro Veiga Cruzeiro, Sander Lambo, Bernhard Englinger, McKenzie L. Shaw, Olivia A. Hack, Ilon Liu, Rebecca D. Haase, Carlos A.O. de Biagi Jr., Alicia Baumgartner, Andrezza Do Nascimento Silva, Marbod Klenner, Pia S. Freidel, Jochen Herms, Louisa von Baumgarten, Joerg C. Tonn, Niklas Thon, Katharina Bruckner, Sibylle Madlener, Lisa Mayr, Daniel Senfter, Andreas Peyrl, Irene Slavc, Daniela Lötsch, Christian Dorfer, Rene Geyregger, Nicole Amberg, Christine Haberler, Norman Mack, Benjamin Schwalm, Stefan M. Pfister, Andrey Korshunov, Lissa C. Baird, Edward Yang, Susan N. Chi, Sanda Alexandrescu, Johannes Gojo, Marcel Kool, Volker Hovestadt, Mariella G. Filbin
https://doi.org/10.1038/s43018-025-00964-9