(Wien, 15-10-2019) Bis zu 50 Prozent der Schwangerschaften in Europa sind ungeplant. Gleichzeitig nimmt die Zahl der Menschen, die auf natürlichem Wege keine Kinder bekommen können, zu. Ob wegen steigendem Alter, Krebserkrankung oder Transgender-Veranlagung der Eltern – viele Frauen benötigen eine Unterstützung bei der Reproduktion, und es entsteht bereits jedes 10. Baby in Österreich im Reagenzglas. Vom 16. bis 19. Oktober 2019 werden daher beim Kongress der Europäischen Gesellschaft für Gynäkologie (ESG) im Austria Center Vienna neue Strategien zur Familienplanung diskutiert und Frauengesundheit auch ganzheitlich betrachtet.
„Noch immer sind in Europa an die 40 bis 50 % der Schwangerschaften ungeplant“, schätzt Christian Egarter, Leiter der Klinischen Abteilung für Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin der MedUni Wien und einer der Congress Chairs des europäischen Gynäkologenkongresses (ESG). „Das ist vor allem ein Phänomen bei jungen Frauen. Gleichzeitig gibt es immer mehr Frauen ab 35, denen es schwerfällt, ein Kind zu bekommen. Genau deshalb sind neue Strategien zur Familienplanung und Reproduktion so wichtig und Themenschwerpunkte am ESG-Kongress“, erklärt Egarter.
Verhütung nach LARC-Methode
Generell zeigt sich in der Bevölkerung eine zunehmende allgemeine Skepsis gegenüber oral eingenommenen Hormonpräparaten. So bricht mittlerweile ein Drittel bis die Hälfte aller Frauen, die bereits mit „der Pille“ verhüten, diese Verhütungsmethode innerhalb eines Jahres wieder ab. Kontrazeptionsexperten empfehlen klar reversible Langzeitkontrazeptiva (long-acting reversible contraceptives) – kurz LARCs – wie Kupfer- und Hormonspiralen, 3-Monats-Depotinjektionen oder subdermale Implantate. „Die Vorteile liegen auf der Hand, denn LARCs sind effektiver als orale Präparate, im Gegensatz zur Sterilisation jederzeit reversibel, und sie bergen kein erhöhtes Thromboserisiko,“ bringt es Egarter auf den Punkt. Auf einen längeren Zeitraum von drei bis fünf Jahren gerechnet sind LARCs außerdem kostengünstiger.
Neue „Mini-Pille“ soll künftig zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen
Da viele Frauen den reversiblen Langzeitkontrazeptiven aber leider nach wie vor skeptisch gegenüber stehen, wurde parallel an einer „neuen Mini-Pille“ geforscht, die deutlich weniger Nebenwirkungen und kein Thromboserisiko in sich birgt. Ein weiterer hochinteressanter Nebeneffekt, der sich in Tierversuchen zeigte, ist, dass teilweise weißes Fett in braunes Fett umgewandelt wird und die Mini-Pille somit auch der zunehmenden Adipositas entgegenwirken könnte. Der Status-quo dieser Forschungsergebnisse wird am ESG-Kongress präsentiert und die Minipille demnächst in Österreich eingeführt.
Jede 10. Geburt durch In-Vitro-Kinderwunschbehandlung Während die einen daran arbeiten, nicht schwanger zu werden, fällt es anderen immer schwerer, schwanger zu werden. „Wir haben hier ein deutliches gesellschaftliches Problem. Waren vor 10 Jahren die Erstgebärenden noch knapp über 20, sind sie jetzt über 30. Die Fertilität, also Fruchtbarkeit nimmt aber ab dem 35. Lebensjahr – und noch stärker ab 40 – deutlich ab. Ab 45 Jahren ist es nur mehr in Einzelfällen möglich, natürlich schwanger zu werden,“ erklärt Egarter. „Aufgrund vielfältiger Hemmnisse resultiert schon jetzt jede 10. Geburt in Österreich aus einer In-Vitro-Kinderwunschbehandlung (IVF)“, schätzt der gynäkologische Endokrinologe.
Mit dem Alter steigt auch das Risiko
Je älter die Frau, desto höher ist auch das Risiko einer Basiserkrankung, die sich negativ auf die Fruchtbarkeit auswirkt. Dazu zählen u.a. auch endokrinologische Erkrankungen. „Einige dieser endokrinologischen Erkrankungen, wie die polyzystischen Eierstöcke, können wir mit Hormonpräparaten schon gut behandeln und dennoch den Kinderwunsch möglich machen. Bei anderen Ursachen wie vorzeitige Ovarialinsuffizienz – hier können die Eierstöcke ihre Aufgaben nur mehr ungenügend erfüllen – ist die Erfolgsrate leider noch gering“, so Egarter.
Fortpflanzung ist ein Menschenrecht
„Neue Strategien zur Familienplanung heißt auch, weiter zu denken und Menschen in schwierigen Lebenssituationen die Möglichkeiten zu bieten, ihre Fertilität zu erhalten. Denn das Recht auf Fortpflanzung ist ein Menschenrecht,“ betont Egarter. Das ist auch ein großes Thema in der gynäkologischen Onkologie. So bietet man verstärkt Krebspatientinnen Möglichkeiten wie Kryotechnologie an, um langfristig ihre Fertilität zu erhalten. Dabei werden ihnen vor der Krebsbehandlung gesunde Eizellen oder Eierstockgewebe entnommen und tiefgefroren, um sie dann nach der überstandenen Krebsbehandlung für eine künstliche Befruchtung heranziehen zu können. Auch im Transgender-Bereich – also der gegengeschlechtlichen Therapie – ist die Erhaltung der Fertilität mittlerweile ein wichtiger Aspekt. Aufgrund der gesellschaftlichen Liberalisierung wird eine Transgender-Behandlung immer häufiger durchgeführt, und 2018 wurden z.B. an die 700 Männer und 600 Frauen an der Transgender-Ambulanz der MedUni Wien einer gegengeschlechtlichen Therapie unterzogen.
ESG: Frauengesundheit ganzheitlich betrachten
Die neuen Strategien zur Familienplanung sind einer von mehreren Kongressschwerpunk-ten. „Aufgrund der Themenbreite in der Gynäkologie haben sich viele Spezialisierungen innerhalb der Frauenmedizin entwickelt. Die Herausforderung des ESG-Kongresses ist es, in kürzester Zeit ein Update über das Gesamtfach der Gynäkologie zu geben,” erklärt Heinz Kölbl, Abteilungsleiter für Frauenheilkunde an der MedUni Wien und weiterer Congress Chair bei der ESG. Gemeinsam mit Egarter und Kölbl fungieren auch Johannes Huber, Peter Husslein und Christian Singer als weitere Congress Chairs.