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Erleichterung der Symptome bei Querschnittslähmungen

Verfahren lindert Spastizität und verbessert Mobilität Betroffener
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Bild: MedUni Wien/Hofstötter

(Wien, 11-04-2022) Bis zu 80 Prozent der Menschen mit einer Querschnittverletzung leiden unter Spastizität. Bisher hatten sie die Wahl zwischen Medikamenten mit starker Nebenwirkung oder einer risikoreichen Operation. Die Mathematikerin und Neurowissenschaftlerin Ursula Hofstötter von der Medizinischen Universität Wien entwickelte ein Verfahren, das die Spastizität lindert und zudem die Mobilität verbessert – ganz ohne Medikament oder Operation.

Bei einer Querschnittverletzung werden das Rückenmark und die darin laufenden Nervenbahnen geschädigt. Dieser wichtige Teil des Zentralnervensystems steuert verschiedene Vorgänge im Körper. Neben einer Lähmung der Extremitäten können deshalb auch motorische, sensorische sowie vegetative Funktionen beeinträchtigt sein. Viele Betroffene haben mit Spastizität zu kämpfen, also einer schmerzhaften Erhöhung der Muskelspannung oder Muskelkrämpfen, die die bereits verminderte Willkürmotorik (bewusst gesteuerte Bewegungsabläufe) noch weiter reduziert.

Verarbeitung von Nervensignalen
Das gängige Behandlungsschema umfasst neben Physio- und Ergotherapie auch medikamentöse Maßnahmen. „Diese Medikamente können aber nicht selektiv wirken. Das heißt, sie hemmen nicht nur die Spastik, sondern unterdrücken gleichzeitig die Aktivität der Willkürmotorik und machen oft sehr müde“, sagt Ursula Hofstötter vom Zentrum für Medizinische Physik und Biomedizinische Technik der Medizinischen Universität Wien. Eine andere Methode, die sich gut bewährt hat, ist die epidurale Rückenmarkstimulation, bei der bestimmte Nervenstrukturen durch implantierte Elektroden angeregt werden. „Neben einer Schmerzlinderung zeigt diese Methode auch einen positiven Effekt auf die Beweglichkeit. PatientInnen können Bereiche wieder bewegen, die sie zuvor nicht mehr bewegen konnten“, schildert Hofstötter.

Doch: „Sie wird nur selten eingesetzt, denn zwei chirurgische Eingriffe und hohe technische Voraussetzungen sind erforderlich.“ Aufgrund ihres Spezialgebiets könnte man meinen, Hofstötter sei Medizinerin, doch tatsächlich ist sie ursprünglich Mathematikerin. Hofstötter erzählt, wie es zu dem Fokus auf Medizin kam: „Durch eine Lehrveranstaltung von Professor Rattay an der TU Wien bin ich auf Neuromodulationstechniken aufmerksam geworden. Ich bin selbst sehr sportlich und hatte schon kleinere Unfälle, wo ich dachte: Was wäre, wenn ich jetzt nicht mehr gehen könnte? Diese Frage hat mich nicht losgelassen. Ich wollte mein Wissen für Menschen, die Verletzungen im Zentralnervensystem erlitten haben, einbringen und für ihre Rehabilitation etwas Positives bewirken.“ – Ein Vorhaben, das Hofstötter erfolgreich umsetzen konnte.

Stimulation des Rückenmarks ohne Eingriff
Mit ihrem Kollegen Karen Minassian hat sie eine Technik entwickelt, bei der man Klebeelektroden auf der Körperoberfläche platziert und dieselben Nervenstrukturen anregen kann wie mit den implantierten Elektroden. „Diese Methode ist gänzlich nichtinvasiv. Sie hat zudem den Vorteil, dass sie auch von nicht spezialisierten Rehazentren und Kliniken angeboten werden kann.“ Studien zeigten, dass bereits eine einmalige Stimulation für 30 Minuten die Spastizität für mehrere Stunden erfolgreich kontrollieren und die Restwillkürmotorik verbessern kann. Mit fortlaufender Behandlung kann die Wirkung sogar mehrere Tage anhalten.

Nachhaltigkeit der Effekte auf der Spur
In ihrem aktuellen Projekt widmete sich Hofstötter mit Mitteln des Wissenschaftsfonds FWF erstmals gezielt dem Einfluss der Stimulation auf neuronale Mechanismen im Rückenmark. „Das Ziel ist, damit später individuell optimierte Behandlungsergebnisse erzielen zu können. Es gibt weltweit viele klinische Studien, jedoch keine erforscht die zugrunde liegenden spinalen Mechanismen. Darin besteht die Stärke unserer Forschung“, erklärt die Wissenschaftlerin und Leiterin der Forschungsgruppe „Neuronale Bewegungskontrolle und Neuromodulation“ an der Medizinischen Universität Wien. Zehn Personen mit Querschnittverletzung im chronischen Zustand (ein Jahr nach der Verletzung) und 20 Personen mit gesundem Rückenmark nahmen an der Studie teil.

Reflexbögen für neuronale Prozesse
„Das Rückenmark besteht aus einem komplizierten Neuronensystem. Wir haben darin mehrere Mechanismen vor und nach einer Anwendung der nichtinvasiven Rückenmarkstimulation untersucht, von denen man vermutet, dass sie eine Rolle in der Entwicklung von Spastizität spielen.“ An dieser Stelle muss man das Konzept von Agonist (Spieler) und Antagonist (Gegenspieler) verstehen: Um eine Bewegung ausführen zu können, ist immer das balancierte Zusammenspiel dieser gegensätzlich wirkenden Kräfte notwendig. Will man beispielsweise ein Gelenk bewegen, so müssen bestimmte Muskeln angespannt werden und andere locker bleiben. Genauso verhält es sich mit den Reflexbögen im Rückenmark. „Wir konnten verschiedene aktivitätshemmende Mechanismen bei Querschnittgelähmten identifizieren, die nach der Therapieanwendung wieder ähnlich aktiv sind wie bei Menschen mit einem intakten Rückenmark. Zudem konnten wir einen Mechanismus mit überschießender Aktivität identifizieren, der nach der Stimulation wieder normalisiert wirkt.“ Bis Ende März wurden die Daten gesammelt.

Stellung der Betroffenen in der Forschung
Um die Studie erfolgreich durchführen zu können, war ein hohes Maß an interdisziplinärer Kooperation notwendig. „Man schnuppert in die Neurologie, Physiotherapie, Elektrotechnik, Informatik, Physik und natürlich in die Mathematik“, erläuterte Hofstötter. Die wichtigsten Kooperierenden seien die Betroffenen. „Wir sehen sie nicht als Patient:innen, sondern als wertvolle Partner:innen auf Augenhöhe. Wir erhalten von ihnen so viel Wissen, das wir akademisch verarbeiten dürfen. Es ist unsere Verpflichtung, die Ergebnisse nutzbar zu machen.“ Erste Wiener Zentren wenden die nichtinvasive Rückenmarkstimulation bereits in einer Testphase an. Bewährt sich die Methode hier als individuelle Heimtherapie, so hat sie das große Potenzial, in Zukunft vielen Menschen zugutezukommen. Hofstötter: „Es gibt diesen Irrglauben, dass nichts mehr zu machen sei, sobald ein Zustand chronisch geworden ist. Dagegen stemmen wir uns entschieden. Die Rückenmarkstimulation ist ein mächtiges Werkzeug.“

Zur Person
Ursula Hofstötter ist Professorin am Zentrum für Medizinische Physik und Biomedizinische Technik der Medizinischen Universität Wien. Hier leitet sie die Forschungsgruppe „Neuronale Bewegungskontrolle und Neuromodulation“. Hofstötter promovierte 2009 in Technischer Mathematik an der Technischen Universität Wien. Das Projekt „Rückenmarkstimulation: Nachhaltige Effekte bei Spastizität“ (2018–2022) wurde durch den Wissenschaftsfonds FWF mit 191.000 Euro gefördert.