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Varianten der Geschlechtsentwicklung – individuelle Behandlungsansätze

Internationaler Kongress in Wien: Mehr Zurückhaltung statt irreversibler Therapien
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(Wien, 17-09-2019) Manchmal ist bei der Geburt nicht eindeutig erkennbar, ob das Kind ein Mädchen oder ein Bub ist. Varianten der Geschlechtsentwicklung und seltene kindliche Hormonstörungen sind vom 19. bis 21. September 2019 Thema beim europäischen Kongress für pädiatrische Endokrinologie (ESPE) im Austria Center Vienna. Die Tagungspräsidentschaft liegt bei der MedUni Wien. Im Gegensatz zu früher hat in der Medizin heute ein Umdenken stattgefunden, irreversible Eingriffe werden möglichst vermieden.

„Als pädiatrische Endokrinologen haben wir uns auf die Diagnose und Behandlung von sehr seltenen Erkrankungen von Kindern spezialisiert,“ so Gabriele Häusler, Leiterin der Ambulanz für pädiatrische Endokrinologie und Osteologie der MedUni Wien sowie Tagungspräsidentin des europäischen pädiatrischen Endokrinologiekongresses (ESPE). „Genau deshalb haben wir den heurigen ESPE-Kongress unter dem Motto „Variety und Variation“ gestellt. Damit wol-len wir die Angst vor seltenen Phänomenen wie den Varianten der Geschlechterentwicklung nehmen, ebenso wie Toleranz gegenüber statistischen Abweichungen von der „Norm“ signalisieren,“ betont Häusler.

Varianten der Geschlechterentwicklung – Jeder Mensch ist individuell
„Jeder Mensch ist individuell,“ betont auch Stefan Riedl, pädiatrischer Endokrinologe im St. Anna Kinderspital sowie Vize-Tagungspräsident des ESPE-Kongresses. Öfter tritt eine Vari-ante der Geschlechtsentwicklung bereits bei der Geburt in Erscheinung, manches zeigt sich aber auch erst im Zuge der Pubertät – so wenn ein Bub eine Brust bekommt oder ein Mädchen keine Menstruation entwickelt. Bei einigen Varianten der Geschlechtsentwicklung ist es eindeutig, welchem Geschlecht das Kind zuzuordnen ist – so bei einem Buben, dessen Harnröhre nicht an der Eichelspitze, sondern an der Unterseite des Penis mündet. Davon sind ei-ner von 300 Buben betroffen. Manchmal aber sind die Begriffe „männlich“ oder „weiblich“ zu eng gestrickt – diese tiefgreifenden Varianten sind jedoch, wie Riedl betont, mit einer Wahr-scheinlichkeit von etwa 1:4.000 sehr selten. Die Ursachen für die Varianten der Geschlechts-entwicklung sind so vielfältig, wie die unterschiedlichen Ausprägungsformen selbst und kön-nen chromosomale, genetische, physiologische, umweltbedingte oder eben endokrinologi-sche – d.h. hormonbedingte – Ursachen haben.

Kinderwunsch und Geschlechtsvarianten – kein unbedingter Gegensatz
So kann ein Cortisolmangel der Nebenniere indirekt dazu führen, dass das äußere Genitale eines Mädchens bei der Geburt vermännlicht aussieht. Hier ist eine Hormonersatztherapie ab Diagnose in der ersten Lebenswoche lebenswichtig und die Geschlechtsvariante ein Symp-tom, das durch ein Ungleichgewicht des Hormons Testosteron dazu führt, dass die Klitoris vergrößert und penisartig aussehen kann. Ein Mangel des gleichen Hormons bei Buben bewirkt, dass das äußere Genital nicht typisch männlich ausgeprägt ist. „Bei einigen Varianten der Geschlechtsentwicklung wird die Identität nicht bestritten und auch ein Kinderwunsch kann im Erwachsenenalter durchaus erfüllt werden,“ erklärt Riedl. Bei genetischen Formen der Varianten der Geschlechtsentwicklung ist im Erwachsenenalter eher eine Unfruchtbarkeit gegeben – aber selbst da kann, wie bei einem XXY-Menschen durch die Entnahme von funk-tionsfähigen Spermien aus den Hoden während der Pubertät, ein Potenzial für eine spätere Fruchtbarkeit gegeben sein.

Mehr Zurückhaltung statt irreversibler Therapie
Die Varianten der Geschlechtsentwicklung sind ein sehr sensibles Thema – gerade wenn sie nicht in das Schwarz-Weiß-Schema „männlich/weiblich“ passen. „Hier wurde früher häufig sehr früh irreversibel eingegriffen und viel totgeschwiegen,“ erklärt Riedl. „Heute haben wir ein Umdenken. Die Kinder werden in ihrer Individualität gesehen, die Familien auch psychologisch betreut und Selbsthilfegruppen in das Management mit einbezogen,“ betont Riedl. „Nur gewisse Fälle werden früh behandelt – neben einer medizinisch notwendigen Hormon-behandlung gehören dazu etwa Harnröhrenverlegungen oder die Entfernung funktionsloser Keimdrüsen, die sich zu einem Tumor entwickeln können. Bei allen anderen Fällen lässt man sich – basierend auf dem Recht der körperlichen Unversehrtheit – möglichst Zeit bis zur Pu-bertät oder später,“ erklärt der erfahrene Endokrinologe. Ist sich der angehende Teenager beim Einsetzen der Pubertät seiner Geschlechtsidentität noch nicht sicher, besteht zudem auch durch die Gabe von Hormonblockern die Möglichkeit, die Pubertät hinauszuzögern.

Pädiatrische Endokrinologie – Spezialgebiet seltener Krankheiten
„Neben den Varianten der Geschlechtsentwicklung klären wir pädiatrischen Endokrinologen in Zusammenarbeit mit den Kinderärzten vor allem Verdachtsfälle von Hormonerkrankungen – wie Wachstumsstörungen und Schilddrüsenfehlfunktionen – ab. Auch das Gebiet der gene-tisch bedingten Knochenerkrankungen und ausgeprägten skelettären Wachstumsstörungen – wie die Glasknochenkrankheit, Achondroplasie oder hypophosphatämische Rachitis –gehören dazu,“ beschreibt Gabriele Häusler das umfangreiche Fachgebiet.